Mit diesen Worten hob er die Tageszeitung und verschwand hinter dem Horoskop.
Kurt staunte über seinen eigenen Mut und die nüchterne Analyse seines Gegenübers. Zufrieden klang diese nicht, aber auch nicht resigniert.
So begann das Jahr für Kurt mit einer kurzen, realistischen Beschreibung aus dem Leben eines Büro-Märtyrer.
Als er im Cafe „zeitlos“ ankam, fragte Charlotte, ob er gut ins Neue Jahr gekommen sei.
Silvester war okay, meinte er; lediglich das Fest der Liebe mit allen neurotischen Familienmitgliedern hatte wie jedes Jahr groteske Züge gehabt.
Charlotte erzählte, dass sich was Neues überlegt habe.
Oh ha, dachte Kurt, noch eine mit Vorsätzen fürs Neue Jahr.
Sie habe in einem Bericht gelesen, dass die New Yorker ganz scharf auf ein Gebäck namens Bagels seien. Man kann es mit Käse, Lachs, Schinken – eigentlich allem versehen. Charlotte behauptete, dass Croques und Baguettes bald überholt seien.
Oh ha, dachte Kurt zum zweiten Mal in diesem Gespräch.
Sie hatte sich bereits Rezepte besorgt und sich mir ihrem Haus- und Hofbäcker zum Probebacken verabredet.
Auch wenn ihm die neue Idee befremdlich vorkam, schätzte Kurt Charlotte als Geschäftsfrau. Sie war eine der ersten, die ein Cafe im Univiertel eröffnet hatte, das verschiedenste Kaffeevarianten anbot. Eine weitere Erfindung von ihr war die „Kulturnacht“. Das waren Abende, an der sie ihr Kaffee für Literatur- und Musikveranstaltungen öffnete. Auch Kurt und seinen Kabarettfreunden hatte Charlotte das Cafe schon für Auftritte zur Verfügung gestellt.
Letztendlich war sie eine gute Seele, die innovativ genug war, um in der schnelllebigen Studentengastronomie immer auf Höhe des Balls zu bleiben und nicht ins Abseits zu laufen.
Lediglich in der Liebe war die Abseitsfahne regelmäßig oben. Männer überrannte sie mit ihrer dynamischen Aktivität in Handeln und Reden, so dass diese sich schnell den Zweikämpfen entzogen und sich auf dem Spielfeld L´amour auswechseln ließen. Nur eine männliche Beziehung hielt lang, die zu Sir Toby - ihrem Golden Retriever.
Beflügelt durch seine morgendliche Erfahrung stellte Kurt auf dem Heimweg seinem Sitznachbarn in der U-Bahn die gleiche Frage wie auf der Hinfahrt. Doch statt einer differenzierten Antwort tönte ihm nur ein „Willst du mich verarschen? Lass mich in Ruh!“ entgegen.
Zu dieser Zeit traf sich Kurt häufig abends mit seiner Kabarettgruppe „Die Beißer“ bei Thies, um am neuen Programm weiterzuarbeiten.
In Thies kleinem Kapitänshaus am Oevelgönner Ufer, das er von seiner Großmutter geerbt hatte, lüfteten sie Bierflaschen, durchstöberten Zeitungen der letzten Wochen auf der Suche nach knackigen Schlagzeilen als Ansatzpunkt für ihr neues Programm.
Sei es, ob sich die erste rot-grüne Koalition in der BRD auf Landesebene gebildet hatte - mit einem Ministerpräsidenten in konservativen Anzug und einem Turnschuh tragenden Umweltminister auf der anderen Seite oder ob Großbritannien aus der UNESCO austrat und sich auf diesem Weg von Erziehung, Wissenschaft und Kultur verabschiedete. Der erste Privatsender ging auf Sendung und leitete den kulturellen Niedergang des Fernsehabendlandes ein. In Österreich wurde Prädikatswein mit Frostschutzmittel gesundheitsgefährdend veredelt. Musikmagazinen wurden durchstöbert. Beim Blick der Charts überkam sie eisiges Frösteln: Ein Brite mit Brillentick, ein eunuchenhaft singendes, angeblich modern talkendes Duo und einige andere Pop-Sternchen waren die Topseller. Daniel behauptete, dass Österreichischer Wein wohl die einzige Möglichkeit wäre, diese Schallplatten-Kakophonie zu ertragen.
Diese aktuellen Ereignisse boten genügend Fauxpas, politische Banalitäten und Plattitüden, um fortlaufend ihr Programm den real-existierenden politischen Verhältnissen anzupassen.
Als Kurt voll mit diesen Erinnerungen sich dem Cafe „zeitlos“ näherte, sah er schon von Weitem Helenas blondes Haar in der Sonne leuchten.
Kurt stoppte am Bürgersteig und lächelte Helena an: „Hallo, auf zur Elbe.“
Mit einem „Wunderbar“ schwang sich Helena auf den Beifahrersitz.
„Sie sehen gestresst aus.“
„Die letzten zwei Tage hatten es sich in sich. Einer meiner Chefredakteure hat medial über die Strenge geschlagen und die Schläge bekomme ich gerade ab. Aber lassen Sie uns das Thema wechseln. Wie haben Sie die Tage seit unserem letzten Treffen verbracht?“
Während Kurt den Wagen durch den Stadtverkehr in Richtung des Oevelgönner Hafen lenkte, erzählte Helena von Ausstellungen, die sie in Museen besucht hatte.
Vom Hafen gingen sie flussabwärts. Ein warmer Südwestwind trug den mit schwerölgetränkten Geschmack des Hafens zu ihnen. Am Museumshafen blieben sie einige Minuten stehen, labten sich am Anblick der alten Holzsegelschiffe und ließen den Blick über die glitzernde Wasserfläche der Elbe bis zu den Containerterminal auf der anderen Uferseite streifen.
„Was halten Sie davon, wenn wir ein wenig am Strand spazieren gehen und uns an der guten alten Strandperle in den Sand setzen?“ schlug Kurt vor.
Nickend fragte Helena ihn: „Meine Mutter erwähnte, dass Sie beide dieses früher öfters gemacht hatten. Auch erzählte sie mir, dass sowohl ihre Beziehung als auch Ihre Fernsehkarriere in der U-Bahn begonnen haben. Wie kommt man von der U-Bahn ins Fernsehen?“
Kurt erzählte ihr kurz von seinem Vorsatz, den er an Silvester 1985 gefasst hatte und dass er sich angewöhnt hatte, Mitfahrern in der Bahn Fragen zu stellen.
„Was für Fragen haben Sie den Menschen gestellt?“
„Anfangs habe ich mich erkundigt, was die Menschen von dem Neuen Jahr erwarten.“
„Und kamen immer die gleichen Antworten?“
„Keinesfalls. Einige Personen lehnten schroff eine Beantwortung ab oder schwiegen gänzlich. Aber viele antworten freizügig und angesichts des ungewöhnlichen Szenarios auch ganz nachdenklich. Manche Dinge entsprachen dem Klischee: HSV-Fans träumten von der Meisterschaft, St. Pauli-Fans vom Aufstieg in die zweite Liga. Zur damaligen Zeit war das zentrale politische Thema in Hamburg die Hausbesetzung in der Hafenstraße. Viele junge Menschen sympathisierten mit den Hausbesetzern, während viele andere meinten, man möge mit dem Gesindel endlich aufräumen. Als es im April zur Kernschmelze im Atomkraftwerk Tschernobyl kam, war die Stimmung eine Zeitlang sehr bedrückt. Die Sorge um die eigene Gesundheit stand im Mittelpunkt und diese nicht sicht- und spürbare, aber dennoch reale Bedrohung durch radioaktive Strahlen verunsicherte die Menschen sehr. Fußball und andere Alltäglichkeiten rückten für einige Wochen in den Hintergrund. Allerdings zeigte sich bald, wie schnell der Mensch Dinge verdrängt und sich wieder seinem Alltag zuwendet.“
„Was für Fragen haben Sie noch den Menschen gestellt?“
„Wenn ich provozieren wollte, stellte ich politische Fragen. Da ein befreundeter Kommilitone von mir zu den Hausbesetzern in der Hafenstraße gehörte, beschäftigte mich dieser Konflikt sehr und ich interviewte daher einige Wochen lang die Fahrgäste, welche Vorschläge sie zur Lösung des Konfliktes hätten. Diese reichten von Revolution bis zur Vergasung, was mich angesichts der deutschen Geschichte sehr erschreckte. Anderseits konnten wir diese Ideen gut in unserem Kabarettprogramm ausbreiten und somit die hanseatische Gesellschaft scharf karikieren.
Schließlich ging ich dazu über philosophische Fragen, nach Zufriedenheit, Glück und Sinn des Lebens zu stellen.“
„Auf welche Ihrer Fragestellung gab es die interessantesten Antworten?“
Kurt überlegte kurz „Wenn Sie Ihr Leben noch mal von vorne starten können, was würden Sie anders machen?“
Helena hatte ihre weißen Sandalen abgestreift, trug diese am Riemchen in der linken Hand, derweil ihre Füße den warmen Sand genossen. Während die Sonne von einem strahlend blauen Himmel auf die beiden hinablächelte und Hafenfähren das Fahrwasser durchkämmten, sinnierte Helena über Kurts Worte. Schließlich blieb sie stehen und wand sich ihm zu: „Welche Antworten erhielten Sie von den Menschen auf diese Frage?“
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