Beide schwiegen eine Zeit lang, schauten einer Hafenbarkasse hinterher, deren Wellen mit Verzögerung auf den Oevelgönner Strand aufliefen. Schließlich beendete Helena das Schweigen.
„Es ist wirklich nicht meine Absicht und auch nicht meine Aufgabe, Ihnen altkluge Erziehungstipps zu geben. Eine englische Freundin merkt gelegentlich an, dass ich zu einer hellenistischen Arroganz neige. Bitte lassen Sie darum etwas Milde im Umgang mit mir walten.“
Voila, dachte Kurt. Die junge Dame verfügt über die Fähigkeit der Selbstreflektion. Diese Begabung hatte sie in den bisherigen Gesprächen noch nicht durchschimmern lassen. Er nickte mit einem wohlwollend Lächeln ihr zu und wechselte das Thema: „Damals entstanden Spannungen zwischen Susanne und ihren Eltern. Haben Sie Kontakt zu Ihren Großeltern?“
„Mein Großvater ist vor elf Jahren verstorben. Auf der Rückreise von Weimar habe ich meine Großmutter kurz in ihrem kleinen schwäbischen Dorf besucht. Sie fragte mich nach meinem Studium; aber letztendlich erlebte ich eine oberflächige Begegnung mit ihr. Auch wenn immer gesagt wird, dass Blut dicker als Wasser ist, so fanden wir doch keinen gemeinsamen Nenner, der unsere Seelen verbindet. Meine Großmutter hat den Sinneswandel meiner Mutter nie nachvollziehen können. Wie eine Frau, die seit Jahren glücklich mit einem Mann zusammenlebte, sich mit Ende Zwanzig von diesem trennt und darüber hinaus ihren Job als Bankkauffrau für eine Weltreise aufgibt, überstieg Großmutters Vorstellungskraft. Daher haben beide Seiten nie engeren Kontakt zueinander gesucht.
Somit eignet sich meine Großmutter keinesfalls als Zeitzeugin, die mir aus Sicht einer neutralen, dritten Person den Richtungswechsel meiner Mutter schildern kann. Von daher ruhen meine Hoffnungen auf Ihnen, der in dieser Zeit Susanne am Nächsten stand.“
Kurt musste lachen: „Ich und neutraler Beobachter. Ich war über beide Ohren in Susanne verliebt.“
„Dann streiche ich die Vokabel neutral und formuliere es so: Ich suche jemanden, der mir schildert, wie er die Susanne der Endachtziger Jahre erlebt hat.“
Kurt schaute auf seine Uhr. „Gerne erzähle ich Ihnen, wie ich Susanne kennen gelernt und wahrgenommen habe. Auch würde es mich freuen, wenn Sie mir etwas von Susannes weiterem Lebensweg erzählen. Doch würde ich jetzt gerne wegen meines Sohnes nach Hause fahren. Schaffen wir es, uns noch einmal zu sehen? Freitag habe ich morgens eine mörderische Redaktionssitzung. Gegen 16.00 Uhr könnte ich.“
„Das passt. Am Samstag fahre ich eine Freundin in Kopenhagen besuchen.“
„Wenn das Wetter weiterhin so bleibt, könnten wir an der Alster spazieren gehen. Als Treffpunkt schlage ich die Krugkoppelbrücke vor.“
„Einverstanden. Da ich heute nichts weiter vorhabe, würde ich gerne noch eine Weile hier am Elbstrand bleiben.“
„Dann Ihnen noch einen schönen Abend“ wünschte Kurt, erhob sich und ging in Richtung des Museumshafen davon.
Helena schaute ihm nach. Sie ahnte, was ihre Mutter damals an Kurt fasziniert haben könnte. Allerdings konnte sie nicht verstehen, was den Studenten Kurt dazu gebracht hatte, den Wandel vom Paulus zum Saulus zu durchwandern.
27. Juli 2011
Da Werbebroschüren ihm aus dem Briefkasten entgegenstarrten, ging er davon aus, dass Henning nicht daheim war. Der unbeantwortete Widerhall seiner Stimme bestätigte ihm diese Mutmaßung. Kurt ging in die Küche, entnahm dem Kühlschrank ein Bier und genoss dieses auf der Terrasse, während er eine Wochenzeitung las. Als Henning gegen 23.00 Uhr immer noch nicht erschien, versuchte Kurt ihn auf seinem Mobiltelefon zu erreichen. Erneut schallte ihm lediglich der Technosound des Anrufbeantworters entgegen. Erschöpft von diesem Tag räumte Kurt zunächst ein wenig in der Küche auf. Nach dem Routinebesuch im Badezimmer legte er sich aufs Bett. Vor seinen inneren Augen ließ er die Gespräche mit Dr. Gründgens, Andresen und Helena Revue passieren und schlief schließlich ein.
Aufgeschreckt durch einen Knall fuhr Kurt mitten in der Nacht hoch. Das Adrenalin in seinen Adern weckte ihn schlagartig. Kurt lauschte in die Dunkelheit hinein. Kein Ton war zu hören. Wahrscheinlich hatte er doch nur geträumt. Gerade als er seinen Kopf wieder auf dem Kissen ablegte, hörte er kurz eine menschliche Stimme. Der Wecker zeigte 0.45, als Kurt sich vorsichtig erhob und zur Tür schlich. Nun vernahm er zwei Stimmen, die ihm Erdgeschoss flüsterten. Vorsichtig öffnete er die Tür einen Spaltweit. An der giggelnde Stimme erkannte er seinen Sohn. Im Schlafanzug empfing er Henning und dessen Freundin am oberen Ende der Treppe. Ina erschrak und Henning krümmte sich vor Lachen, als er seinen Vater sah.
„Was besseres als Lachen fällt dir nicht ein, wenn du mich in tiefer Nacht weckst?“ donnerte Kurt ihm entgegen. Mit großen Augen starrte Henning seinen Vater an, bevor er sich erneut in einer Lachattacke ergab. Feixend und Grimassen ziehend versuchte Henning sich an Kurt vorbeizuschieben.
„Du bist ja völlig stoned. Hast du wieder Pillen geworfen?“
„Nein, nein, wir sind in einer Kneipe mit ein paar Freunden versackt. Ich glaube, Henning sollte jetzt lieber ins Bett. Alles Weitere können wir doch morgen besprechen“, schob Ina schnell ein und leitete Henning in Richtung des Badezimmers. Henning pendelte zweimal aufgekratzt zwischen seinem Zimmer und dem Bad hin und her, während Ina ihm mütterlich klingende Anweisungen hinsichtlich der Körperpflege und des Umziehens gab. Verstimmt beobachtete Kurt das Geschehen. Angesichts des gestressten Blicks von Ina sah er von einer weiteren elterlichen Intervention gegenüber seinen Jüngsten ab. Besorgt dachte er an das Gespräch am nächsten Morgen und legte sich wieder ins Bett.
28. Juli 2011
Die graue Wolkendecke spiegelte seine innere Verfassung wider. Träge bewegte er sich ins Badezimmer. Der Wasserstrahl der Dusche regte ein paar seiner Lebensgeister an. In der Küche brühte er sich einen Cafe Latte, löffelte das Müsli in sich hinein, während er die Tageszeitung durchblätterte. Eine kurze Zeit später trat Ina in die Küche. Mit einem kurzen Morgengruß ging sie zum Kühlschrank, schenkte sich ein Glas Milch ein und schlürfte mit diesem in der Hand zum Flur. Als sie die Türschwelle erreicht hatte, stoppte Kurt sie. „Ina, bitte setz dich doch mal kurz zu mir.“
Sie drehte sich um und sah Kurt mit verunsichertem Blick an. Nach einem kurzen Zögern setzte sie sich an den Küchentisch.
„Würdest du mir bitte sagen, was gestern Abend geschehen ist.“
„Wir waren mit Lothar unterwegs und die Jungs haben ein paar Bier getrunken.“
„Nur Bier?“
„Ich glaube, es waren auch noch ein oder zwei Wodka mit Mangosaft dabei.“
„Trinkst du nichts?“
„So gut wie nichts. Mir wird schlecht, wenn ich mehr als zwei Gläser trinke.“
„Dann sei froh. Ist bestimmt nervig, wenn man den ganzen Abend Jungs beim Trinken zu sieht.“
Als Antwort erhielt Kurt ein Schulterzucken.
„Ihr seid in einem Alter, in dem man neue Erfahrungen sucht und Dinge ausprobiert. Meine Frau und ich machen uns große Sorgen um Henning. Wir zweifeln gerade daran, dass er seinen Alkohol- und Ecstasy-Konsum im Griff hat. Findest du Hennings Verhalten normal oder machst du dir nicht auch gelegentlich Sorgen um Henning?“
Ina nippte an ihrem Glas Milch, bevor sie ihre Meinung kundtat. „Ach, Herr Assens. Ich glaube, es existiert ein Unterschied in der evolutionären Entwicklung von Jungs und Mädels. Mädels sind brav und vorsichtig, während die Jungs sich ausprobieren. Henning ähnelt in diesem Punkt den meisten Jungs in unserer Schule.“
Eins konnte Kurt nicht leugnen: Sein Sohn hat Geschmack und sich eine pfiffige Freundin ausgesucht, die eine elegante Argumentationstechnik beherrscht.
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