Eines Nachmittags, nach vielen Wochen der Suche, hatte er endlich die Spur eines einzelnen Großschnabels entdeckt, der sich von seiner Herde entfernt hatte. Drei Tage lang folgte er ihm, kam ihm immer näher. Dann endlich, am Morgen, hatte er den Vogel schließlich gestellt. Doch der drehte blitzschnell um sich und griff an. Whitewave zögerte nur einen Moment – erschrocken – und der Vogel, riesengroß, die Federhaube aggressiv aufgestellt, sprang auf ihn zu. Voller Entsetzen hob der Junge den Bogen, doch bevor er schießen konnte, kamen zwei weitere Vögel aus den Büschen. Nur mit knapper Not konnte Whitewave sich in letzter Sekunde auf einen Baum retten. Dabei verlor er seinen Bogen, aber er hätte ohnehin vom Baum aus keinen Großschnabel geschossen. Wer ein Jäger werden wollte, musste seiner Beute gegenübertreten, sie im fairen Kampf töten, so wollten es die Regeln. Bis in die Nacht musste er dann auf dem Baum aushalten. Als es schließlich dunkel wurde, liefen die Großschnäbel krächzend fort und er hatte keine Gelegenheit mehr, einen von ihnen zu schießen. Er versuchte es noch einmal, fand nach langer Suche noch einmal Spuren, doch auch dieses Mal glückte es ihm nicht, entdeckten ihn die Vögel zu früh und er entkam ihnen nur knapp. Danach gab er auf, kehrte enttäuscht und mit einem Gefühl der Demütigung zurück.
Whitewave war wütend auf Greenleaf. Immerzu glückte ihm alles. Er war der jüngste Jäger gewesen, zusammen mit Clearwater. Noch bevor das Jahr vorbei war und er 15 wurde, hatte er eine Waldkatze erlegt und war als stolzer Jäger zurückgekehrt. Greenleaf war so selbstsicher – warum konnte er das nicht auch sein. Er musste etwas machen, dass Annika merkte, dass auch er seine Qualitäten hatte. Mit ihr reden war vielleicht doch nicht so gut – er wurde immer rot, wenn er mit einem Mädchen sprach, errötete schon, wenn er nur daran dachte. Whitewave setzte sich bequemer hin und überlegte, wie er Annika davon überzeugen konnte, dass er ein ebenso großartiger Gefährte und guter Freund war wie Greenleaf. Vielleicht etwas Witziges? Mädchen mochten Jungen, die sie zum Lachen brachten – glaubte er zumindest.
Nach dem Mittagessen machte einer der Jungen einen Vorschlag und schon bald ging eine große Gruppe zu einer flachen Bucht am Fluss. Eine Weile saßen sie am Ufer, genossen die Freiheit, nichts tun zu müssen und Annika berichtete vom Leben in der Stadt.
„Die Stadt ist viel größer als das Dorf hier, viel größer. Deshalb haben wir teilweise ganz schön lange Wege. Also zum Beispiel von da, wo ich wohne bis zum Institut. Aber das ist nicht schlimm, denn auf allen großen Straßen sind Elos, Elektrofahrzeuge, die tragen uns dahin, wo wir wollen.“
„Elektrofahrzeuge?“, fragte ein Junge, „Was ist das?“ Niemand konnte sich etwas unter dem Begriff vorstellen.
Annika erklärte: „Überall sind offene Wagen, … also, wie früher die Autos; nur eben ohne Dach, das brauchen wir ja nicht. Sie haben auch keine Türen, sondern breite Einstiege und halten an, wenn du an bestimmten Punkten stehst und ein Zeichen gibst. Dann kannst du einsteigen und sie bringen dich dann dahin, wo du hin willst. Sie fahren lautlos, weil sie elektrisch sind und können ziemlich schnell werden. Aber nicht zu schnell, denn sie müssen ja sofort anhalten können, wenn jemand aus- oder einsteigen will, ohne dass die anderen da drin hin und her geschleudert werden. Elos sind klasse, sie werden per Computer gesteuert, mit Spracherkennung. Du sagst einfach, wo du hin willst und dann geht es los. Du musst nichts machen, nicht mal aufpassen. Das machen alles die Elos selbst. Sie sind total sicher; sie haben Sensoren, damit sie sofort anhalten, wenn jemand nach ihnen winkt oder einer über die Straße geht und nicht aufpasst. Aber normalerweise gehen wir nicht da, wo die Elos fahren.“ Von Rainbird hatte das Mädchen sich ein Blatt Papier und einen Stift geben lassen und zeichnete nun einen groben Grundriss des Stadtzentrums und das Prinzip der Elektrofahrzeuge auf.
„Ist das nicht gefährlich? Fällt man da nicht raus?“, fragte ein Junge besorgt und ein Mädchen wollte wissen: „Warum lauft ihr nicht? Die Stadt ist doch nicht größer als der Wald?“
Weitere Jugendliche waren inzwischen dazugekommen, lauschten ungläubig.
Annika lachte: „Nein, sicher nicht. Aber weißt du, wenn wir alle zu Fuß unterwegs wären, würde alles viel länger dauern und wir wollen doch schnell vorankommen. Deshalb haben wir die Elos entwickelt. Die bringen uns bequem überall hin. Aber …“, antwortete sie auf die Fragen des Jungen, „sie sind nicht so schnell, dass man da rausfällt. Nur eben bequemer und schneller als zu Fuß.“ Einen Moment überlegte sie. Natürlich waren die Elektrofahrzeuge wirklich bequem, aber sicherlich war das auch ein Grund, warum sie immer noch das Laufen der vergangenen Tage in den Beinen spürte. Die Menschen hier im Dorf liefen viel mehr als die in der Stadt – das hatte sie ja schon bei Clearwater und Greenleaf gesehen. Man konnte meinen, sie lebten in völlig unterschiedlichen Welten. Sollte sie ihren Zuhörern auch noch von den Gleitern erzählen, die dem schnellen Transport von Menschen und Waren dienten und mit leisem Summen dicht unter den Schutzdächern der Stadt flogen, sowie auf den langen Strecken von Stadt zu Stadt? Nein, entschied sie, das würden die anderen hier wohl nicht verstehen. Inzwischen hatten die Zeichnungen die Runde gemacht und nach einigen weiteren Erklärungen von Annika meinten nun die meisten, zu verstehen, wie die Elektrofahrzeuge funktionierten.
„Ich würde das zu gerne mal sehen“, sagte eine Zwanzigjährige und blickte verträumt über den Fluss. Andere stimmten ihr zu. Inzwischen hatten sich die Mehrheit der jungen Leute des Dorfes und auch einige Ältere an der Bucht versammelt.
„He, lass uns ins Wasser gehen!“, rief plötzlich einer der Jungen aus. Schnell streifte er Hemd, Schuhe und den Gürtel mit dem Messer ab und lief zum Wasser. Alle Jungen folgten seinem Beispiel und auch einige der Mädchen zogen ihre Hemden aus. Nach und nach waren nun alle Jugendlichen ins Wasser gelaufen, spritzten sich gegenseitig nass, tauchten unter oder schwammen ein Stück in die Bucht hinaus.
„Annika, los komm!“, rief Wildwind, „Das Wasser ist herrlich!“
„Ja los“, rief auch Whitewave, der sich erst vor Kurzem zu ihnen gesellt hatte, „Komm doch mit. Ich weiß ein tolles Spiel, das macht dir bestimmt Spaß!“ Er hielt einen Moment inne, wartete unsicher auf eine Reaktion des Mädchens, bevor er sich umdrehte und schließlich ins Wasser lief.
Annika jedoch zögerte. Das Wasser sah – nun, so nass aus. Weiter draußen wirkte es blau, denn der Himmel spiegelte sich darin. Hier aber in der Bucht war es braun und nur nahe am Ufer konnte man den Grund sehen. Was, wenn etwas Schreckliches im Wasser war? Ein Junge tauchte auf, schrie. Annika richtete sich erschrocken auf. Doch schnell merkte sie, dass es ein Freudenschrei war. Immer wieder tauchten einzelne Jungen und Mädchen unter, um dann ein Stück entfernt wieder hochzukommen, die Haare tropfnass, lachend. Annika blickte sich um. Sie war die einzige, die noch am Ufer saß. Also stand sie auf, zog ebenfalls ihre Schuhe aus und ging behutsam zum Wasser. Es war ungewohnt, barfuß zu gehen; das Gras war glatt unter ihren Füßen und die Steinchen piekten. Sie machte kleine, behutsame Schritte. Doch bevor sie sich noch über die Steine beklagen konnte, hatte sie das Ufer erreicht. Der Sand war kühl und feucht zwischen ihren Zehen. Vorsichtig tauchte sie den Fuß in das Wasser und war überrascht. Es war frisch, aber angenehm. Langsam ging sie weiter, spürte, wie es allmählich an ihren Beinen höher stieg. Dann erreichte es die kurze Hose – ih, das fühlte sich aber komisch an. Annika zögerte einen Moment, ging weiter.
„Los komm, mach mit!“, schrie Whitewave, winkte ihr zu. Erschrocken stolperte das Mädchen ein Stück zur Seite: Der Junge spritzte einem anderen Wasser ins Gesicht; der wehrte sich und schon trugen beide fröhlich lärmend eine Wasserschlacht aus. Ein Junge schnellte sich aus dem Wasser, tauchte platschend ein, kam prustend wieder hoch. Andere, Jungen und Mädchen, machten es ihm nach. Vorsorglich wich Annika ihnen aus; das sah ihr zu wild aus. Ein Stück weiter versuchten ein Mädchen und ein Junge, ein anderes Mädchen unterzutauchen. Es sah gefährlich aus, auch wenn alle dabei lachten. Annika hoffte, dass sie das nicht auch mit ihr versuchen würden. Sie watete weiter. Jetzt umspülte der Fluss ihren Bauch, dann die Brust. Es fühlte sich merkwürdig an – am liebsten wäre sie wieder zurückgegangen.
Читать дальше