Gertrud Rust
Greenleaf
- ein utopischer Roman
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Inhaltsverzeichnis
Titel Gertrud Rust Greenleaf - ein utopischer Roman Dieses ebook wurde erstellt bei
1 Annika
2 Im Dorf
3. Stadt, Dorf, Fluss
4 Aufregende Erlebnisse
5 Heimweh
6 Aufbruch
7 In den Wäldern
8 In der Stadt
9 Endlich Zuhause
10 Greenleaf
11 Clearwater
12 Wiedersehen
13 Erfahrungen
14 Schülerleben
15 Urvölker und Stadtbewohner
16 Abschied
Impressum neobooks
Sie hörte ein scharfes Klicken, erschrak, als er ihr die Hand auf den Mund legte. Der Junge drückte sie zu Boden, lag halb über ihr. Panik schoss in ihr hoch; sie meinte zu ersticken. Wieder erklang das Klicken, näher jetzt, der Boden vibrierte. Sie konnte spüren, dass der Junge zu seiner Waffe griff. Sie roch Erde, modriges Holz, den Körper des Jungen und noch etwas. Plötzlich war da ein strenger Geruch – wonach? Sie erstarrte. Es raschelte in den Blättern, ein Ast krachte, dann hörte sie, wie jemand – etwas? – schnaufend die Luft einsog. Eine weitere Welle der Angst flutete durch ihren Körper, lähmte sie. Tiefer drückte der Junge sie zu Boden, lag nun schützend über ihr. Wieder klickte es, dann folgte ein lautes Schaben. Der tote Baumstamm über ihr schwankte, Holzsplitter und Erde rieselten. Wieder das Schnaufen, danach ein hartes „Krak – Krak“, dann Stille. Angespannt verharrten sie so, lagen bewegungslos, wagten kaum zu atmen. Nach einer Zeit, die ihr ewig vorkam, raschelte es, knackten Zweige und Äste. Dumpf klangen Schritte und die Geräusche entfernten sich. Dann war wieder Stille.
„Komm!“, drängte der Junge, erhob sich. „Wir müssen hier weg!“
Das Mädchen unterdrückte einen Schauer, krabbelte aus der tiefen Mulde unter dem umgestürzten Baum. Der Junge hielt ihr die Hand hin, half ihr hoch. Sie sah sich um: Pflanzen waren niedergetreten, in der Borke waren drei Kerben zu sehen. Entsetzt blickte sie auf die tiefen Kratzer, stützte sich mit zitternden Knien am Holz ab.
„Komm!“, wiederholte der Junge. Schon hatte er sich abgewandt, setzte sich in Bewegung. Das Mädchen holte tief Luft und lief hinter ihm her. Leichtfüßig eilte der Junge durch den Wald. Bald keuchte sie, konnte nicht mehr Schritt halten. Er wartete, nahm dann ihre Hand. Weiter liefen sie, die ganze Zeit durch einen Wald, in dem unter hohen, mächtigen Bäumen dichtes Unterholz und Büsche wuchsen. Sie liefen am Ufer eines kleinen Baches entlang, platschten durch das Wasser, weiter und immer weiter. Schließlich hielt der Junge an. Schwer atmend blieb das Mädchen stehen, hielt sich die Seite. Über ihnen ragte ein uralter Baum auf, riesig, mit gewaltigem Stamm und Ästen, dicker als manch einer der Bäume umher.
„Da rauf!“, sagte der Junge, lehnte sich an die Rinde, faltete die Hände zu rRäuberleiter. „Kommst du da hoch, wenn ich dir helfe?“
Das Mädchen nickte, trat in die gefalteten Hände und ließ sich hoch drücken. Sie zog sich auf den untersten Ast, klammerte sich an einen anderen. Nur wenig später tauchte der Junge auf, hatte den Baum mit Leichtigkeit erklommen. „Wir müssen noch ein Stück höher, hier kommt er noch an“, erklärte er und kletterte weiter hinauf, bis zu einem anderen starken Ast, der ebenfalls fast waagerecht aus dem Stamm ragte. Das Mädchen folgte ihm. „Wir bleiben hier“, bestimmte der Junge und ließ sich rittlings in der Astgabel nieder, den Rücken an den Stamm gelehnt, „Setz dich zu mir, ich halte dich. Wir müssen heute Nacht hier oben bleiben.“ Rot schien die Sonne durch die Blätter, tauchte das Laub um sie herum in feuriges Licht. Es wurde Abend.
Nach einem kurzen Zögern kletterte das Mädchen zu dem Jungen, lehnte sich an seine Brust. Ein wenig unsicher legte er seine Arme um ihren Körper. Jetzt erst, wo sie in Sicherheit waren, begann das Mädchen zu zittern. Ein Schluchzen entrang sich ihrer Kehle. „Was war das?“, fragte sie mit bebender Stimme.
„Das war ein Großschnabel. Die fressen alles, was sie erwischen. Sie sind unsere Feinde. … Sie haben mächtig scharfe Augen und Ohren, aber zum Glück war der Baum da.“
„Ein was-Schnabel? … Das … das war ein Vogel?“, fragte sie ungläubig.
Der Junge nickte. „Großschnabel. Die sind echt riesig. Sie können nicht fliegen, aber sie laufen irre schnell. Springen können sie auch, aber nicht so hoch, wie wir jetzt sitzen. Sie sind echt gefährlich; sie fressen alles, was nicht schnell genug abhaut.“
Das Mädchen schluckte. Sie war froh, dass sie den Vogel nicht hatte sehen können, als der Junge sie plötzlich in das Versteck unter den Baum gedrängt hatte. Allein die Geräusche waren so schrecklich gewesen, dass sie beim Gedanken daran immer noch zitterte.
„Ah!“, schrie das Mädchen plötzlich, „Da! Was ist das? … Au!“ Voller Angst schlug sie um sich, traf mit dem Handrücken etwas Hartes.
„Au!“, rief nun auch der Junge. Er duckte sich, „Das war mein Kopf. Wedel nicht so rum.“ Dann lachte er leise: „Das sind doch nur Nachtfalter“, aber er scheuchte einen der großen grau-braunen Schmetterlinge weg, der auf dem Arm des Mädchens gelandet war.
Eine Weile schwiegen sie. Wieder schrie das Mädchen auf, streckte entsetzt die Hand aus. Etwas kleines Schwärzliches krabbelte über die Haut. Hektisch schüttelte sie das Insekt ab, schluchzte auf: „Was ist das hier alles?“
„Schsch“, der Junge zog das Mädchen an sich, versuchte etwas unbeholfen, Trost zu spenden. „Das ist bloß ein Borkenkäfer. Keine Angst, die Falter und die Käfer, die tun dir nichts.“
Doch das Mädchen war nicht beruhigt. In den Zweigen unter ihnen knackte es, dann raschelte es über ihren Köpfen. Plötzlich ertönte ein schriller Schrei nicht weit entfernt. „Was sind das für Geräusche? … Ich will hier weg! … Ich will hin wo … wo keine Tiere sind. … Ich will nach Hause!“
Wieder beruhigte sie der Junge. „Die Rufe – das ist die Harpyie. Die ruft ihre Nestlinge. Aber die ist weit weg; die tut dir auch nichts.“ Weitere Falter flogen taumelnd vorbei ,verschwanden in der einbrechenden Dunkelheit. Das Mädchen sah ihnen schaudernd nach – sie flatterten lautlos dahin, waren so groß und unheimlich. Leise erklärte der Junge: „Hier oben sind wir in Sicherheit, da brauchst du keine Angst zu haben. Wirklich. Ich passe auf dich auf.“
‚In Sicherheit‘ – das Mädchen hätte lachen können, wenn ihr nicht zum Weinen zumute gewesen wäre. Sie wollte nach Hause, dorthin, wo es keine Falter und Käfer gab, die ihr Angst machten, dorthin, wo sie wirklich sicher war, die Tür hinter sich zumachen konnte. Trotzdem – irgendwie hatte sie tatsächlich nicht mehr ganz so viel Angst hier oben bei dem Jungen, der seine Arme um sie gelegt hatte. Sie schloss die Augen. Wieder schwiegen sie eine Weile. Dann fragte das Mädchen mit einer Stimme, aus der immer noch ungläubiges Entsetzen klang: „Jonathan und Lilly sind tot, nicht wahr? … Wo sind die anderen?“
„Zwei sind abgehauen, sie haben nicht einmal nachgesehen, ob einer von euch noch lebt. Sie sind sofort weggerannt, dahin, wo sie gedacht haben, dass da ein Weg ist. Aber sie werden nie ankommen. Die Großschnäbel haben schon ihre Verfolgung aufgenommen.“
Das Mädchen schüttelte sich bei dem Gedanken. „Was ist mit Tim?“, fragte sie dann besorgt, „Er hat mir geholfen, aus dem Gleiter zu kommen. Aber er hat geblutet, so furchtbar geblutet.“
Der Junge legte seine Arme fester um sie. Dann erklärte er bedauernd: „Das ist der andere, der nicht in dem Ding war, ja? … Er ist auch tot. Er ist den Hang runtergefallen; das hat er nicht überlebt. Ich habe ihn gefunden, bevor ich dich gehört habe.“
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