Das Mädchen legte den Kopf an die Schulter des Jungen, weinte lautlos. Tränen liefen über ihre Wangen. Hilflos saß der Junge hinter ihr. Er wusste nicht, wie er sie trösten konnte.
Schließlich fragte er: „Hast du Durst?“ Schluchzend nickte das Mädchen und er holte eine Flasche aus seiner Tasche, reichte sie ihr. Das Wasser war lauwarm und etwas abgestanden, aber nach all der Aufregung schmeckte es köstlich. Langsam beruhigte sich das Mädchen wieder. Sie schwiegen, lauschten den Geräuschen des Waldes.
„Ich bin Greenleaf. Wie heißt du?“, stellte der Junge sich endlich vor.
Schniefend hielt das Mädchen inne. „Greenleaf?“, staunte sie, „Das ist aber ein merkwürdiger Name.“ Sie errötete, als sie sich ihrer Taktlosigkeit bewusst wurde. „Oh, … nein. Entschuldige, das … das war nicht nett. Ich meine … ich hätte das nicht sagen dürfen. … Ich heiße Annika.“
Der Junge lachte leise: „ Den Namen finde ich merkwürdig. Aber er ist schön und er passt zu dir.“ Nun hielt auch er verlegen inne. Es wurde dunkel unter dem dichten Blätterdach.
„Du passt auf mich auf, ja?“, fragte Annika mit schläfriger Stimme. Sie fühlte sich schwindelig, ihr Kopf schmerzte. Sie rieb sich mit der Hand über das Gesicht, versuchte nachzudenken, aber sie war so müde. Auf einmal standen wieder die Bilder vom Absturz vor ihren Augen.
Sie alle hatten Angst bekommen, als der Gleiter, der sonst immer nur mit einem leisen Surren unmerklich hoch über der Landschaft flog, plötzlich laute Geräusche von sich gab. Schmidt, der vorn saß, stieß einen Fluch aus, drehte sich zum Armaturenbrett und drückte hektisch auf die Knöpfe; das konnten sie sehen, als sie alle aufgeregt nach vorn blickten. Nichts schien zu helfen; der Gleiter sackte ab – mit einem Mal waren die Baumkronen gar nicht mehr so tief unter ihnen. Ein schrilles Pfeifen ertönte, Lichter zuckten grell über den Monitor. Es roch nach verbranntem Gummi, dann sahen sie Rauch, schwarzen Rauch. Fluchend versuchte Schmidt, einen Notruf abzusetzen, aber aus dem Lautsprecher drang nur Knacken und Rauschen. Dann geriet der Gleiter ins Trudeln, kippte zu einer Seite. Lilly schrie. Sie hielten sich verzweifelt an ihren Sitzen fest, wurden dann aber doch durcheinander gewirbelt. Sie erinnerte sich, dass Bernhardt, der andere Begleiter, Blut im Gesicht gehabt hatte. Mit einem heulenden Geräusch stürzte der Gleiter schneller und immer schneller dem Wald entgegen. Sie brachen durch die Äste. Annika erinnerte sich an das laute Prasseln und Rauschen um sich herum. Alles verschmolz zu grünen Streifen, die rasend schnell an ihnen vorbeiwischten. Laut krachend knallte der Gleiter immer wieder mit heftigen Stößen irgendwo gegen, so dass sie durcheinander wirbelten, sich die Körper und Köpfe anstießen. Äste brachen und bremsten doch ihren Sturz. Dann prallten sie auf den Boden. Die gläserne Kuppel zerbarst in einem Regen von Glassplittern. Irgendjemand schrie, Jonathan wimmerte und überall war Blut. Sie, Annika, schlug mit dem Kopf gegen eine der Seitenstreben, verlor die Besinnung.
Sie wurde wieder wach, als Tim sich über sie beugte. Das Gesicht kreidebleich, Blut in den Haaren, zerrte er mühsam an dem Sitz, der aus seiner Verankerung gebrochen und auf sie gefallen war. Er war schwer und hielt sie wie eine Klammer fest. Ihr Kopf schmerzte so sehr; sie wäre am liebsten einfach liegen geblieben. Doch Tim forderte sie auf, zu treten und stoßen . Sie trat und wand sich und mit seiner Hilfe gelang es ihr, sich unter dem Sitz heraus zu befreien. Dann half Tim ihr, aus dem Gleiter zu klettern. Oh Himmel, ihr war so übel! Sie taumelte zu einem Busch, übergab sich heftig. Der Schmerz in ihrem Kopf hämmerte rasend. Sie sank auf die Knie, alles drehte sich. Es dauerte, bis sie sich wieder aufrichten konnte. Als sie zurück zum Gleiter kam, war Tim verschwunden. Lilly saß immer noch in ihrem Sitz, den Kopf merkwürdig verdreht, die Augen weit geöffnet. Sie war tot, ebenso wie Jonathan, der unter einer der Seitenstreben eingeklemmt lag. Auf dem Armaturenbrett war Blut, aber Schmidt und Bernhardt waren verschwunden. Annika rief und rief. Als keine Antwort kam, machte sie sich auf die Suche nach Tim.
Plötzlich teilten sich die Büsche und eine Gestalt trat heraus, ein Junge mit brauner Haut und lockigen Haaren, die ihm in die Stirn fielen. Er war ungewöhnlich gekleidet, trug ein ärmelloses Oberteil, kurze Hosen und geschnürte Schuhe. Er hatte eine Tasche und einen Köcher , in dem Pfeile steckten über dem Rücken, einen Bogen in der Hand. An seinem Gürtel sah sie ein langes Messer. Schnell überblickte er die Situation, entdeckte die beiden Toten. Er kam zu ihr, sah sie an und rief: „Komm, wir müssen hier weg!“ Dann packte er ihre Hand und zog sie mit sich.
Annikas Gedanken schweiften ab. Er hieß Greenleaf, hatte er gesagt. Er beschützte sie. Jetzt war sie in Sicherheit. Das Schwindelgefühl wurde stärker, Annikas Gedanken verschwammen und nur wenig später war sie eingeschlafen.
Greenleaf spürte, wie der Körper des Mädchens schwer gegen seinen sank – es war gut, dass sie jetzt schlief, dachte er. Sie war so blass – bestimmt tat ihr vom Absturz alles weh. Doch offensichtlich hatte sie keine schweren Verletzungen erlitten. Der Schlaf würde ihr helfen. Inzwischen war es dunkel, er konnte nichts sehen, aber er fühlte ihren warmen Körper. Sie zitterte jetzt nicht mehr. Unter seinen Händen fühlte Greenleaf Annikas Hemd. Ihre Kleider waren merkwürdig, so ganz anders, als er es gewohnt war. Es war wieder warm heute, trotzdem trug sie eine lange Hose aus einem glatten aber festen, hellen Gewebe. Jetzt war die Hose schmutzig, hatte am Knie einen Riss. Auch ihr Oberteil aus dünnem, weichem Stoff, ebenfalls hell, nur mit einem roten Rand an Hals, Bund und Ärmeln, war nun verschmutzt; der rechte Ärmel bis zum Ellbogen aufgerissen. Vorsichtig befühlte Greenleaf das Material. Nein, so einen zarten, weichen Stoff hatte er noch nie angefasst. Überhaupt war Annika ganz anders, als die Mädchen, die er kannte. Ihre Haut war blass, als wäre sie lange nicht in der Sonne gewesen. Ihre Haare waren hell, so hell wie die der Leute aus dem Norden. Annikas Kopf war gegen seinen Hals gesunken. Greenleaf konnte den Duft ihres Haares riechen; er war süß, zart, ebenso wie der Duft ihrer Haut. Alles an ihr war ungewohnt. Er dachte an Clover. Er hatte Clover schon in seinen Armen gehalten, aber sie war ganz anders. Es war erregend, dieses merkwürdige Mädchen im Arm zu halten und er war froh, dass sie schlief. Greenleaf lehnte seinen Kopf an den Stamm und dachte daran, wie er sie gefunden hatte.
Er war auf der Jagd als er plötzlich ein heulendes Geräusch oben über den Wipfeln der Bäume hörte, gefolgt von lautem Krachen und dem Splittern von Ästen. Schnell lief er dorthin, wo, was immer es auch war, auf den Boden gestürzt war. Er fand die Stelle sofort. Eine lange Schneise abgerissener Äste und zerborstener Stämme hatte ihm den Weg gezeigt. Über ihm, am Rand einer steilen Böschung lag eines dieser Fluggeräte, die er schon am Himmel gesehen hatte. Es war zerstört, Rauch stieg auf. Vor ihm, im Schlamm, lag ein Junge in seinem Blut, nicht älter als er selbst. Seine Augen waren weit geöffnet, doch sein Blick war leer – er war tot. Nicht weit entfernt waren Fußspuren; zwei Menschen waren vor Kurzem erst die Böschung herab geschlittert und dann am Ufer des Flusses entlang gerannt. Er fand auch bei ihren Spuren Blut; mindestens einer von ihnen war verletzt. Dann hörte er Rufe. Jemand war unvorsichtig, sehr unvorsichtig. Wie konnte man rufen, wenn die Großschnäbel in der Nähe waren! Schnell kletterte er die Böschung hoch, drängte sich durch die Büsche. Vor ihm lag das Fluggerät, offen wie eine Schüssel. In ihm lagen zwei Menschen, ein Junge und ein Mädchen, beide tot – das konnte er auf den ersten Blick sehen. Vor dem Gerät aber stand das Mädchen, das gerufen hatte – Annika. Sie war kreidebleich, hatte Angst. Schnell ergriff er ihre Hand, zog sie mit sich. Er konnte in der Ferne das krächzende Rufen der Großschnäbel hören. Sie hatten Beute gefunden, stritten sich jetzt darum. Bald würde der Unterlegene nach weiterer Beute Ausschau halten.
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