Allein in seinem Zimmer, vergewissert sich Jerôme mit einem Anruf bei seiner Frau, dass es ihr und den Kindern gut geht. Dem drängenden Wunsch Jacquelines, seine Absichten noch einmal zu überdenken, begegnet er mit den gleichen Argumenten, wie schon bei vorangegangenen Telefonaten. Er versucht, Optimismus zu vermitteln und verspricht, zum Ende des Monats sie und die Kinder zu besuchen. Unter Tränen bittet sie ihn zum wiederholten Mal, vorsichtig zu sein. Sie sorge sich schrecklich um ihn. Seine Bemühungen, sie zu trösten und aufzumuntern, zeigen jedoch kaum Wirkung. Nach dem Telefonat bleibt er eine Weile auf der Bettkante sitzen und stützt sein Gesicht in die Hände. Er fühlt Zweifel aufkommen und fragt sich:
„ Was ist das für eine furchtbare Situation, in die ich da unverschuldet geraten bin. Wer weiß, ob ich es schaffe, diesen Mistkerl zur Strecke zu bringen. Und wie sähen dann die Konsequenzen für mich aus? Ich sollte auf Jacqueline hören und alles in die Hände der Polizei legen." S ofort meldet sich eine andere innere Stimme:
„ Er hat dich und deine Familie bedroht. Das kannst du nicht hinnehmen. Du musst den Kampf aufnehmen! Er entscheidet über dein Schicksal und das deiner Familie. Überlass' es bloß nicht der Polizei oder anderen, das Problem zu lösen. Dich nur zu verstecken und vor der Herausforderung zu kneifen, entspricht nicht deinem Naturell. Du bist kein Feigling.“ Jerôme richtet sich abrupt auf und sagt laut:
„Verdammt, ich werde es schaffen.“ Sein Gesicht nimmt dabei einen harten, entschlossenen Ausdruck an. Dann steht er auf und beginnt, seine Sachen aus der Reisetasche zu räumen. Als er die SIG Sauer in der Hand hält, fühlt er sich wieder sicher und seine Zweifel haben sich zerstreut.
Berlin, Mittwoch, 18. Mai
Hanna ist euphorisch und jubelt innerlich, als sie Ludwig verlassen hat. Sie geht zunächst ins Büro. Jens ist nicht anwesend. Sie ruft die Kriminaltechnik an und trägt ihr Anliegen vor. Dort ist man bereits von Ludwig informiert worden. Wegen des Phantombildes solle sie gleich in die Abteilung kommen, den Rest werde man am nächsten Tag erledigen. Hanna macht sich voller Vorfreude auf den Weg. Ein Kollege erwartet sie und nimmt zunächst Geldtasche und -scheine gegen Quittung von ihr in Empfang. Dann entwickeln beide das Phantombild an einem großen Bildschirm. Hanna ist von den vielen Variationen der Gesichtsmerkmale beeindruckt, die das Bildprogramm bereitstellt. Dank ihrer guten Beobachtungsgabe und ihres Erinnerungsvermögens ist nach knapp einer dreiviertel Stunde ein recht genaues Bild des Bestohlenen entstanden. Allerdings konnte die Augenpartie nicht rekonstruiert werden, und so wird in das Phantombild eine Sonnenbrille eingefügt. Dennoch kommt der markante Gesichtsschnitt des Mannes gut zum Ausdruck. Hanna ist zufrieden und lässt sich die Bilddatei auf ihren Rechner senden. Sie verlässt die Kriminaltechnik. Obwohl es sie drängt, Jens zu erzählen, was vorgefallen ist und sich an den Bericht zu setzen, kehrt sie nicht sofort an ihren Arbeitsplatz zurück. Seit dem Frühstück hat sie nichts mehr gegessen und verspürt einen Bärenhunger. Sie geht hinunter zur Kantine, die allerdings um diese Uhrzeit keine Mahlzeiten mehr anbietet. Aber ein paar schnell heiß gemachte Würstchen tun es jetzt auch.
Als sie kurze Zeit später das Büro betreten will, um mit der Arbeit an ihrem „Katzentisch“ zu beginnen - der immerhin mit einem Rechner ausgestattet ist - öffnet sich die Tür und sie stößt beinahe mit Jens zusammen. Ehe er sie begrüßen kann, hakt sie sich ausgelassen bei ihm ein und schiebt ihn wieder zurück in den Raum. Dass sie dabei ihre selbst auferlegte Distanz nicht mehr wahrt, beachtet sie in dieser Situation nicht. „Du, ich muss dir etwas ganz Wichtiges erzählen“, sprudelt es atemlos aus ihr heraus, und sie beginnt, ohne seine Reaktion abzuwarten, die vorangegangenen Ereignisse zu berichten. Jens hört ihr aufmerksam zu. Er vergleicht Hanna Bericht mit dem, was ihm eben der Chef im Vertrauen mitgeteilt hat. Der hatte ihn gebeten, unauffällig ein Auge auf Hannas Aktivitäten zu haben. Im Gegensatz zu Ludwig nimmt Jens die Angelegenheit sehr ernst.
Als Hanna zum Ende gekommen ist, kann er seine Beunruhigung ihr gegenüber nur schlecht verbergen.
„Bist du besorgt?“, fragt sie verwundert.
„Ja, und nicht zu knapp.“ Sie schaut ihn fragend an.
„Gleichgültig, an wen du da geraten bist, für diese Leute stellst du eine Gefahr dar. Waren es Geldfälscher, dann werden sie ihre Spuren verwischen wollen. Du bist die einzige Person, die den Mann identifizieren kann.“ Er macht eine kleine Pause und erklärt dann, „schlimmer aber wäre es, wenn es sich nicht um Geldfälscher handelt. Wie du selbst gesagt hast, muss der Unbekannte ein starkes Motiv gehabt haben, auf das viele Geld zu verzichten. Und das doch nur deshalb, um seine Identität zu wahren. Dafür spricht auch, dass der Mann mit der U-Bahn fährt, obwohl er wahrscheinlich Wichtiges transportiert. Dadurch vermeidet er direkte Kontakte, wie beispielsweise zu einem Taxifahrer. Sollte man herausfinden, wer er ist, dann würden seine Absichten offenkundig werden. Das will er unbedingt vermeiden.“ Hanna möchte etwas einwenden, aber er fährt in ernstem Ton fort:
„Was auch immer dahintersteckt, er wird mit allen Mitteln versuchen, allein oder mithilfe anderer, seine Identifikation zu verhindern, und genau das macht mir Sorgen.“ Er schaut sie etwas bekümmert an, fährt mit der Hand durch sein störrisches Haar. Eine milde Geste der Verzweiflung, weil er spürt, dass er sie nicht erreicht und sie seine Besorgnis nicht ernst nimmt. Entsprechend fällt auch Hannas Antwort aus:
„Ach was, du wirst schon auf mich aufpassen, nicht wahr?“, antwortet sie kokett und fügt munter hinzu, „schließlich sind wir die Guten!“ Jens winkt ärgerlich ab und schickt sich an, den Raum zu verlassen. Beim Öffnen der Tür sagt er in schroffem Ton, dass sie nicht vergessen soll, dass man in einer Stunde zur Observation muß. Dann schließt er die Tür eine Nuance lauter, als sonst.
Hanna bleibt von seinen Warnungen und seinem Abgang unbeeindruckt. Sie versteht Jens Bedenken, hält sie aber für übertrieben. Das Jagdfieber hat sie gepackt, und sie macht sich mit Schwung an die Arbeit. Am unteren Rand des Phantombildes richtet sie ein Textfeld ein und trägt dort die wichtigsten Erkennungsmerkmale des Mannes ein: Körpergröße, Statur, graue Haaransätze an den Schläfen, schwarzer Akten- oder Diplomatenkoffer mit Handkette und Bekleidung, Muttersprache wahrscheinlich Französisch.
Sie verfasst den Bericht für Ludwig, in dem sie mit großer Sorgfalt alle Details der Ereignisse zusammenstellt. Während dieser Arbeit ist in ihr ein Plan gereift, wie sie den Unbekannten, dem sie den Namen „der Franzose“ gegeben hat, vielleicht identifizieren kann. Sie wird dafür in den nächsten Tagen Vorbereitungen treffen und am kommenden Wochenende mit der Umsetzung ihres Plans beginnen. Allerdings räumt sie sich keine allzu großen Erfolgschancen ein. Nachdem sie das Bild als Anhang zu ihrem Bericht per E-Mail an ihren Chef gesendet hat, druckt sie zehn Exemplare aus, die sie in ihrer Umhängetasche verstaut. Dann ist es Zeit, mit Jens das Observationsteam in Kreuzberg abzulösen.
* * *
Jean Moussard ist erleichtert, sich seiner Fracht entledigt zu haben und der unerquicklichen Atmosphäre entkommen zu sein. Durch den Vorfall am U-Bahnhof ist es spät geworden. Um seine Maschine zu erreichen, kann er nicht mehr zurück in die Pension.
So meldet er sich dort telefonisch ab und erklärt, in den nächsten Tagen zurückzukommen. Gerade noch rechtzeitig schafft er es zur Abfertigung am Flughafen Tegel.
Nun sitzt er im Flugzeug nach Brüssel, das von den Turbulenzen eines heftigen Gewitters durchgeschüttelt wird. Der Diebstahl, der Ärger mit Schmidt und nun das Geschaukel haben seine Stimmung auf einen Tiefpunkt absinken lassen.
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