1 ...8 9 10 12 13 14 ...30 Er inspiziert alle Zimmer. Nichts deutet auf einen ungebetenen Besucher hin, und er stellt fest, dass seine Frau gute Arbeit geleistet und sämtliche persönlichen Unterlagen entfernt hat. Jerôme war nicht wirklich besorgt, dass sein Gegner schon so früh einen Angriff auf ihn und die Familie starten würde. Der Streichholztrick bestätigte diese Annahme. Vermutlich hat er zunächst das gestohlene Material seinem Auftraggeber auszuhändigen. Diese gefährliche Substanz länger als notwendig bei sich zu behalten, kann nicht in seinem Interesse liegen. Für den Fall eines unerwünschten nächtlichen Besuchs trifft er einige Vorkehrungen. Wie in Kriminalfilmen gesehen, stellt er eine leere Flasche auf die Türklinke der Wohnungstür. Bei der kleinsten Bewegung der Klinke würde diese herunterfallen und erheblichen Lärm erzeugen. Außerdem holt er die SIG Sauer SP 2022 aus dem Geheimfach des Kleiderschranks, lädt das Magazin mit fünfzehn Patronen des Kalibers neun Millimeter, entsichert die Waffe und legt sie griffbereit auf den Nachttisch.
Marseille, Montag, 16. Mai
Jerômes erster Weg am nächsten Tag führt ihn in die Rue du Commissaire-Becker zur Direktion der Marseiller Kriminalpolizei. Die Firma hatte ihn dort bereits avisiert.
Zwei Kommissare lassen sich ausführlich die Ereignisse in Gabun, das Aussehen des Täters und die anschließenden dortigen Fahndungsmaßnahmen schildern. Wie schon bei der Polizei in Gabun bleibt er auch hier bei der Täterbeschreibung vage. Es folgen Fragen nach Gefährlichkeit, Wirkung und Transport von Thrombotoxin, den Herstellungsprotokollen und Sicherheitsfragen bezüglich seiner Familie.
Nach der Vernehmung entsteht mithilfe seiner eher ungenauen Angaben ein Phantombild vom Täter. Jerôme wird abschließend gebeten, für weitere Fragen zur Verfügung zu stehen, worauf hin er erklärt, dass er untertauchen müsse, aber in dringenden Fällen über den Vorstandsvorsitzenden Maurice Trouvaille zu erreichen sei.
Nach zweieinhalb Stunden verlässt er das Direktionsgebäude und besucht Lucien Roux in der Rue Esperandieu.
Dessen altes Haus, eingequetscht zwischen zwei Wohnhäuser neueren Baujahrs, ist aufgeteilt in ein Ladengeschäft im Parterre und eine danebenliegende Wohnung. Im Ersten Stock befinden sich zwei kleinere Räume, einer davon dient als Schlafzimmer, der andere als Büro. Im Dachgeschoss ist ein kleines Gästezimmer mit Toilette. Im Keller hat Lucien sich eine Werkstatt eingerichtet, daneben ein kleiner Weinkeller und ein Lagerraum. Hinter dem Haus erstreckt sich ein kleiner Garten. Eine große Platane spendet einem Großteil des Gartens Schatten. Der Laden gilt als Geheimtipp für neuste elektronische Geräte, speziell Sicherheitsanlagen. Lucien gilt als ausgewiesener Elektronikfachmann, der stets auf dem neuesten Stand der Technik ist.
Er ist hochgewachsen, sein Körper muskulös und durchtrainiert. Er besitzt ein markantes, sehr männliches Gesicht mit dunklem Teint, das einen Hauch von Verwegenheit ausstrahlt. Seine hellwachen blauen Augen stehen farblich im Kontrast zum Teint. Das wellige, schwarze, wild wuchernde Haar hat er dadurch gebändigt, dass er es straff zu einem Pferdeschwanz gebunden hat. Obwohl erst achtunddreißig Jahre alt, zeigen sich bereits an den Schläfen graue Haarsträhnen. Auf den ersten Blick wirkt Lucien wie ein Schönling mit der Tendenz zum Fitnesstrainer oder Fotomodell. Erst wenn er geht, wird sein Handicap sichtbar: Lucien zieht das linke Bein nach - die Folge eines zu spät operierten Bandscheibenvorfalls.
Kennt man ihn näher - und Jerôme kennt ihn seit zwei Jahren - dann bemerkt man, wie gebildet und belesen er ist, staunt über sein breites Wissen und den scharfen analytischen Verstand. Ebenso eindrucksvoll ist sein ironischer Sprachwitz, in dem eine ungewöhnlich kritische Distanz und Gelassenheit den Ereignissen der Zeit gegenüber deutlich wird. Hinzu kommt ein herzliches Lachen, eine große Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft, die es jedem leichtmacht, persönlichen Kontakt zu ihm herzustellen und zu erhalten.
Das erste Mal suchte ihn Jerôme wegen eines Computerproblems auf. Jemand hatte ihm das Geschäft empfohlen. Das Problem war in Kürze gelöst und zu seinem Erstaunen wurde er in das liebevoll bepflanzte Gärtchen im Hinterhof zu einem Glas Wein eingeladen. Das war keine kalkulierte Aktion zur Kundenbindung, sondern Jerôme spürte sofort das Bedürfnis und die Freude Luciens, mit interessanten Menschen Kontakt zu haben. So saßen sie im Schatten der Platane und genossen beim Gespräch einen vorzüglichen Château Calissanne. Seine Besuche wiederholten sich, auch wenn es keine akuten technischen Probleme gab. Das führte immer zu einem Schwätzchen, bei dem sich beide über ihre persönliche und berufliche Entwicklung austauschten. Auf diesem Weg entstand schließlich eine echte Freundschaft. Lucien hatte sich gleich nach dem Studium der Elektrotechnik für zwölf Jahre beim Militär verpflichtet. Bald nach der Grund- und einer Spezialausbildung, die er wegen seiner sportlichen Fähigkeiten erfolgreich durchlaufen hatte, wurde er einer speziellen Kampfeinheit zur Terrorbekämpfung zugewiesen. Nachdem er einen Vorgesetzten verprügelt hatte, weil dieser die Gruppe und ihn bei einem Auslandseinsatz leichtfertig in Gefahr gebracht hatte, wurde er zur Sécurité Extérieure, dem französischen Geheimdienst, versetzt. Maßgeblich dafür waren seine Kampferfahrungen im Ausland, die guten arabischen und englischen Sprachkenntnisse, die er erworben hatte sowie seine Spezialisierung im Bereich der Elektronik und Kommunikationstechnik. Hier verbrachte er die letzten fünf Jahre seiner Vertragszeit bei einer vergleichsweise langweiligen Arbeit. Als er den Abschied, nahm fühlte er sich befreit, als wäre er aus dem Gefängnis entlassen worden.
So beschloss er, nie wieder in einer hierarchischen Struktur zu arbeiten und setzte alle Energie für den Aufbau seines kleinen Ladengeschäfts ein, das er seit viereinhalb Jahren betrieb. Es bedeutete für ihn Freiheit und Selbstständigkeit, trotz intensiverer Arbeit. Dabei war er sehr darauf bedacht, jede finanzielle Unterstützung durch seine wohlhabende Winzerfamilie zu vermeiden. Diese war bisher zu keinem Zeitpunkt notwendig. Er brachte aber die von der Familie produzierten, hervorragenden Weine in sein Geschäft mit ein, die man beim ihm verkosten und erwerben konnte. Deren Qualität zusammen mit Luciens anregenden Gesprächen und seinen fundierten Kenntnissen über die Weine der Provence, lassen Besuche bei ihm zu einer höchst angenehmen Begegnung werden.
* * *
Immer wenn Jerôme aus Gabun zurückkehrt, freut er sich auf den Besuch bei Lucien. So auch diesmal, allerdings kommt er heute mit einem wichtigen Anliegen zu ihm. Er sucht Rat. Beide sitzen nun bei einem Glas Wein im Garten. Lucien berichtet ausführlich über die Ereignisse und über seine Absicht, den Killer selbst zur Strecke zu bringen und ihm dazu eine Falle zu stellen. Lucien hört ihm aufmerksam zu, stellt nur einige Verständnisfragen. Als Jerôme geendet hat, warnt er ihn vor Alleingängen und meint, Jerôme solle doch die Polizei einschalten. Der lehnt das entschieden ab. Er habe nicht genügend Vertrauen zu offiziellen Stellen. Lucien spürt, dass er ihn nicht überzeugen kann. Lucien gibt sich geschlagen und säufst „Eh bien, dann muss es auf eine andere Art gehen“, nun entschlossen fügt er hinzu, „aber dazu brauchst du meine Hilfe, allein ist das nicht zu schaffen.“ Jerôme protestiert, dass er so etwas nicht von ihm verlangen könne. Mit einer wegwerfenden Geste wischt Lucien den Einwand weg und entgegnet:
„Mann lass’ stecken, ich weiß schon was ich tue. Wir sollten besser überlegen, wie wir den Killer fertigmachen können. Deine Idee mit der Falle gefällt mir.“ Schließlich ist man sich darüber einig, wie das geschehen soll.
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