Ich nippte an meiner Cola. „Lass uns nicht mehr darüber reden“, schlug ich vor. „Ich bin sehr froh, dass du dein Armband wieder hast. Das sollte das Einzige sein, was zählt.“
„Tut mir Leid, wenn ich dich mit meinen Fragen löchere oder dir auf den Keks gehe“, entschuldigte sie sich. „Ich habe nur noch nie jemanden kennen gelernt, der so etwas faszinierendes kann.“
Meine Wangen wurden rot und ich nahm erneut einen Schluck der Limonade in der Hoffnung, dass mir das kühle Getränk schnell wieder eine weniger verräterische Gesichtsfarbe verleihen würde.
Ich sah auf die Uhr und bemerkte, dass es bereits kurz nach sechs war. „Ich muss nach Hause. Meine Grandma macht sich bestimmt schon Sorgen.“
„Meine Mum müsste jeden Moment zurückkommen. Sie fährt dich bestimmt nach Hause. Oder willst du die ganze Strecke zu Fuß zurückgehen?“
Bevor ich etwas erwidern konnte, wurde die Haustür geöffnet und eine Stimme rief Elizabeths Namen. „Wenn das kein Zufall ist“, flüsterte Elizabeth und zwinkerte mir kurz zu. „Ich bin hier, Mum“, antwortete sie in Richtung des Hausflurs.
Ich hörte, wie jemand mit schnellen Schritten die Treppe hinauf rannte.
„Kate, zieh bitte deine Schuhe aus“, mahnte Elizabeths Mum. Nur einen Moment später kam sie in die Küche. Überrascht schaute sie in meine Richtung. „Oh, wir haben Besuch?“
„Das ist mein Freund Colby“, stellte mich Elizabeth vor.
Elizabeth nannte mich ihren Freund. In meinem Bauch begann es zu kribbeln.
„Hallo Colby“, sagte ihre Mutter.
„Hallo“, antwortete ich.
Elizabeths Mum lächelte mir zu, doch war ihr Gesicht von großer Sorge gezeichnet. Ihre Augen sahen müde aus und verrieten, dass sie seit mehreren Tagen kaum geschlafen haben durfte. Ich fragte mich, welche Last sie zu tragen hatte.
„Mum, könnten wir Colby nach Hause fahren?“, fragte Elizabeth vorsichtig. „Wir haben heute Mittag beim Spielen die Zeit vergessen.“
Elizabeths Mum stellte ihre Tasche auf der Kochfläche ab und löste das Zopfgummi, mit dem sie die Haare glatt nach hinten gebunden hatte, nur um sich einen neuen Pferdeschwanz zu machen.
„Natürlich. Sag deiner Schwester Bescheid, dann können wir losfahren.“
Elizabeth nickte und bat mich, einen Moment in der Küche zu warten.
„Wohnst du schon lange hier?“, fragte mich Elizabeths Mum.
„Ich besuche meine Grandma über die Sommerferien.“
„Verstehe.“ Ihr Blick fiel auf den Anrufbeantworter, der auf einer Kommode bei der Wohnzimmertür stand. Die blinkende Leuchtdiode signalisierte, dass jemand auf dem Band eine Nachricht hinterlassen hatte.
„Entschuldige, ich möchte nur schauen, wer angerufen hat.“ Hastig verschwand sie und einen Moment später hörte ich eine leise, unverständliche Stimme aus dem Wohnzimmer erklingen.
Während ich wartete, sah ich mir noch einmal meine Zeichnung an. Die Worte von Elizabeths Vater hallten in meinen Gedanken wieder.
Beschütze sie.
Was und vor allem wen meinte er damit? Vielleicht Elizabeth?
„Colby, wir können los!“, rief mir Elizabeth aus dem Hausflur entgegen. Kate stand neben ihr und machte ein ziemlich missmutiges Gesicht. Sicherlich hätte sie ihre Zeit lieber damit verbracht, in ihrem Zimmer zu spielen, als die neue Bekanntschaft ihrer Schwester nach Hause zu begleiten.
Elizabeths Mum kam aus dem Wohnzimmer. Ihre Augen schimmerten glasig und beinahe hätte ich erwartet, dass sie in Tränen ausbrechen würde. Sie strich sich kurz über die Lider und schien damit ihre Fassung wieder zu gewinnen.
Ich sah hinüber zu Elizabeth und Kate, doch schienen die beiden nichts bemerkt zu haben.
Da ich nur den Fußweg zurück kannte, dirigierte Elizabeth ihre Mutter.
„Deine Grandma wohnt in dem Haus am See?“, fragte mich Elizabeths Mum, als wir die Abzweigung von der Straße in Richtung des Sees nahmen und damit nur eine Adresse in Frage kam.
„Ja“, antwortete ich so kurz und unverfänglich wie möglich. Ich hatte auf einmal das Gefühl, ich müsste mich dafür entschuldigen, dass meine Grandma hier draußen lebt. Nachdem wir die Einfahrt erreichten, hielt Elizabeths Mum den Wagen an.
„Das war ein schöner Nachmittag“, sagte Elizabeth. Sie deutete so schnell und unmerklich auf ihr Armband, dass nur ich verstand, was sie mir eigentlich sagen wollte.
„Auf Wiedersehen und danke, dass Sie mich nach Hause gefahren haben.“
Elizabeths Mum nickte. Nachdem ich die Autotür hinter mir geschlossen hatte, fuhr sie so eilig davon, als ergreife sie vor etwas die Flucht.
Ich sah dem Wagen noch eine Weile hinterher und versuchte mir zu erklären, weshalb Elizabeths Mum sich beim Abschied so seltsam verhalten hatte. Offensichtlich – so kam mir langsam der Verdacht – gab es hier in der Gegend einige Menschen, die Viviane nicht sonderlich mochten. Was konnte sie ihnen nur angetan haben, dass die Leute sich so distanziert oder feindselig verhielten?
Während ich die Stufen hinauf zur Veranda ging, fiel mir auf, dass der Himmel fast vollständig von einem dünnen Wolkenband durchzogen war.
Der Regen, bei dem ich mich am Mittag fragte, wie lange er noch ausbleiben würde, sollte kommen. Noch diese Nacht.
Von der Titelseite der regionalen Tageszeitung strahlt einen das hoffnungsvolle Lachen eines Teenagers an. Es ist eine Momentaufnahme irgendwo im Freien, wie sie vermutlich in Photoalben vieler Familien zu finden ist. Das Mädchen hat kinnlange, blonde Haare und trägt ein schlichtes, rotes T-Shirt. Sie könnte in jeder Nachbarschaft zu Hause sein, in jede Highschool des Landes gehen und vermutlich Mitglied bei den Cheerleadern irgendeines Footballteams sein.
Die Augen des Mädchens verraten, welche Erwartungen sie noch an ihr eigenes Leben stellt. Sie hat Träume, nach deren Erfüllung sie sich sehnt: Den Besuch eines Colleges. Reisen in ferne Länder. Einen Menschen zu finden, der sie von ganzem Herzen liebt.
Sie freut sich auf die Zukunft, auf die Tage, die noch kommen werden.
Unterhalb des Bildes formen dicke schwarze Buchstaben den Grund, weshalb das Mädchen auf der ersten Seite der Zeitungen zu sehen ist.
Alice Amstritch wird noch immer vermisst. Seit über achtzehn Tagen fehlt von ihr jede Spur. Wie jeden Morgen hatte sie sich auf ihren Weg – eine Strecke von knapp eineinhalb Kilometern – zur Schule gemacht. Doch sie kam dort nie an.
Was ihr auch immer zugestoßen sein musste, hatte sich in den frühen Morgenstunden ereignet. Wenn ein Verbrechen geschehen wäre – so sagen Alices Eltern in dem Artikel – hätte es doch jemandem auffallen müssen. Jemand hätte es verhindern können. Aber niemand hatte etwas bemerkt oder unternommen.
Was also ist der Grund für Alices Verschwinden?
Ich erinnere mich an die Reportage, in der Alices Vater Jake Amstritch entschlossen in die Kamera des Fernsehteams versicherte, dass er seine Tochter niemals aufgeben werde. Der Artikel ist der Beweis dafür, dass Alices Familie die Hoffnung tatsächlich nicht aufgibt. Eine Hoffnung darauf, dass Alice lebt und zu ihnen zurückkehrt.
Ich wünsche es mir von Herzen, auch wenn ich weiß, dass die Verschwundenen nicht ohne weiteres heimkehren. Sei es, weil sie nicht können oder es nicht wollen.
Ich lege die Zeitung in meinen Spind, setze mir die Mütze mit dem Fresh Food Daily - Logo auf und binde meine Arbeitsschürze am Rücken zusammen. Als ich aus dem Personalraum des Supermarkts hinaus in den Verkaufsraum trete, begegnet mir Aaron. Er hebt seine Hand kurz als Zeichen des Grußes und verschwindet in Richtung der Haushaltswaren. Seit einigen Tagen verhält er sich seltsam und ich bin mir sicher, dass es mit meiner ständigen Absage auf die Einladung, nach Feierabend mit den Kollegen ein Bier trinken zu gehen, zusammenhängt. Ich überlege einen Moment, ob ich ihm nicht einfach erzählen soll, dass ich mich um Dad und Sam kümmern muss, verwerfe aber den Gedanken so schnell, wie er gekommen ist.
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