"Fang ganz von vorne an, hörst du? Wenn du nicht mehr weiterweißt, dann komm zu mir. Wenn du die Sprache nicht wirklich lernen willst wirst du in diesem Land keine Chance haben, glaube mir, ich lebe seit 8 Jahren hier. Ohne die Sprache bist du verloren. Du wirst auch so ganz gut ohne Arbeit leben können, aber andere werden dann für dich sorgen müssen, vor allem Deutsche. Viele werden das nicht gern tun oder dich dafür sogar hassen, dass sie arbeiten gehen müssen, damit du Geld bekommst und dir einen schönen Tag machen kannst. Du hast es diesmal selbst in der Hand, wenn denn die Organisation der Deutschen funktionieren sollte."
Mohammad Aziz dachte daran, was seine Mutter für ihn getan hatte. Er würde es schaffen.
Das Rentnerpaar, Rostock, 2025
Inge Beyer ärgerte sich beinahe jeden Tag, dass das Haus immer mehr verkam. Schon wenn sie die Haustür aufschloss schlug ihr ein ekelerregender Geruch entgegen. Dass er von den bereits getrockneten Urinlachen im Treppenhaus kam wusste sie, aber es lagen noch andere Düfte in der Luft, deren Ursache sie bislang noch nicht gefunden hatte. Sie musste schon froh sein, dass der Fahrstuhl jetzt bereits geraume Zeit ohne Störung funktionierte, schließlich wohnte sie in der 14. Etage, und mit ihren 78 Jahren hätte es sie wohl äußerste Anstrengungen gekostet, ihre Wohnung über die Treppen erreichen zu müssen. Außerdem hatte sie regelmäßig einen Einkaufsbeutel dabei, in dem sie den Nahrungsmittelbedarf für sich und ihren Mann transportierte. Aller drei Tage musste sie neue Ware besorgen und dazu kam noch, dass bestimmte Waren fortlaufend knapp waren. Ihr Mann kam für solche Tätigkeiten nicht mehr in Frage, der 82jährige Anton Beyer war seit seinem Schlaganfall vor einem Jahr pflegebedürftig. Inge Beyer hatte lange mit sich gerungen, ihn in eine Pflegeeinrichtung zur Betreuung zu geben, aber als sie sich dort informiert hatte war ihr schnell klar geworden, dass sie die dafür notwendigen Mittel niemals würde aufbringen können. Man hatte ihr lapidar mitgeteilt, dass sie ja noch rüstig genug wäre die Pflege selbst zu übernehmen. Staatliche Unterstützung in Form von Pflegegeld würde es allerdings bereits seit dem „Pflegestärkungsgesetz IX“ aus dem Jahr 2021 nicht mehr geben, da alle Mittel der Einheitskrankenkasse auf die stationäre Behandlung konzentriert würden, das Gesundheitsbudget jedes Jahr immer mehr schrumpfen würde, und die langanhaltende Abarbeitung der Krankheiten der Neubürger absolute Priorität hätte. Inge Beyer verstand von diesen Dingen nicht mehr allzu viel, aber in den letzten Jahren hatten sich für sie lange gewohnte Regeln der Gesellschaft teils unbemerkt, teils von ihr noch wahrgenommen, grundlegend geändert.
1969, da war sie 22 Jahre alt gewesen, hatte sie ihren Anton kennengelernt. Beide waren kurz nach beziehungsweise noch im Krieg geboren worden, sie 1947, er 1943. Wegen der Wohnungsknappheit hatte sie bis zu ihrem Kennerlernen bei den Eltern wohnen müssen, erst dann wurde ihnen eine winzige Zweiraumwohnung mit Außentoilette mit gerade einmal 35 Quadratmetern zugewiesen. Für den Anfang waren sie mehr als zufrieden gewesen, aber 1971 kam ihr Sohn zur Welt, und der Platz wurde knapp. Ab den 60iger Jahren war es in der DDR zu einer regelrechten Gründungswelle von Arbeiterwohnungsbaugenossenschaften gekommen, die sich die Schaffung von modernem Wohnraum zur Überwindung der Wohnungsnot zum Ziel gestellt hatte. Anton und Inge Beyer wurden 1970 Mitglied in so einer Organisation, und das hieß einerseits sehnsüchtiges Warten auf ein neues Quartier, aber auch die Ableistung von etlichen Stunden Eigenleistung am Wochenende. Sie arbeitete als Fachbereichssekretärin in einem großen Schiffbaubetrieb, er war Zugführer auf einer Diesellok. Anton verdiente durch seine Schichten nicht schlecht, und auch Inge hatte eine ihrer Verantwortung angemessenen Bezahlung. Aufgrund ihrer nicht immer planbaren Arbeitszeiten wurde die Betreuung ihres Sohnes teilweise zum Problem, aber die Großeltern sprangen oft ein. 1973 vervollständigte ein weiterer Junge die Familie, und in diesem Jahr konnten sie ihre AWG-Wohnung beziehen. Sie richteten sich in 75 Quadratmeter Fläche mit Zentralheizung und Warmwasserversorgung ein, verfügten über ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer, ein Kinderzimmer und eine Küche sowie einen Balkon. Alles das, was früher immer mit Arbeit und Dreck verbunden gewesen war, wie Kohlen aus dem Keller für den Ofen zu holen, die Asche in den Müll zu bringen, das war jetzt für sie Vergangenheit. In den nächsten 2 Jahren kletterten sie in ihren Berufen beide ein Stück höher, sie wurde Sekretärin bei einem der Fachdirektoren, er Schichtdienstleiter. Wenn sie sich im Land umsahen gab es aus ihrer Sicht eine durchaus positive Entwicklung. Das Warenangebot nahm zu, es wurde viel gebaut und was ihnen sehr wichtig war, es gab einen sehr engen Zusammenhalt der Leute untereinander. In ihrem Haus hatten sie mit etlichen Familien Freundschaften entwickelt und im Sommer saßen sie mit ihren Familien im Hof und grillten und tranken etwas. So gesehen waren Inge und Anton Beyer mit ihrem Leben recht zufrieden und sie hatten das Gefühl, dass der Staat alles dafür tat, dass es seinen Bürgern immer besser ging. Für beide war es dann nur noch ein kleiner Schritt, 1975 in die Partei einzutreten. Sie taten dies keineswegs aus Berechnung oder Kalkül auf bessere Perspektiven, es war ihre ehrliche Überzeugung gewesen, die sie zu dieser Entscheidung veranlasst hatte. Beide waren intelligente und auch strebsame Menschen, und noch einmal konnten sie ihre beruflichen Positionen verbessern. Er wurde zum Fahrdienstleiter befördert, sie rückte auf den Stuhl der Sekretärin des Betriebsdirektors nach. Finanziell war jetzt einiges drin, und so kauften sie sich 1977 einen sieben Jahre alten gebrauchten Trabant. Zusammen mit den Jungen fuhren sie im Herbst auf die Felder, um Drachen steigen zu lassen, im Sommer hatten sie Decken und einen Picknickkorb dabei.
Mitte der 80iger Jahre deutete einiges darauf hin, dass sich die bislang gute Entwicklung des Landes nicht mehr so erfolgreich gestaltete. Im Gegenteil, es wurde zunehmend schwieriger bestimmte Waren zu ergattern, und der wechselseitige Tauschhandel blühte enorm auf. Auch politisch wehte ein anderer Wind und Beyers waren intelligent genug zu sehen, dass das Land viele Jahre über seine Verhältnisse gelebt und zu viele Mittel in die Konsumtion gesteckt hatte. Auf der anderen Seite war die Infrastruktur auf Zustände zurückgefallen, wie sie teilweise nach dem Krieg geherrscht hatten. Dann ging es relativ schnell, dass sich die Unzufriedenheit der Menschen Bahn brach und Inge und Anton Beyer standen den Protesten und Demonstrationen recht hilflos gegenüber. Einerseits verstanden sie den Unmut der Bürger über viele Fehlentwicklungen, auf der anderen Seite aber sagten sie sich, dass sich in ihrem Land doch keiner an der Arbeit der anderen bereicherte. Der politische Umsturz brachte ihr Weltbild für einen Moment ins Wanken, aber sie wussten auch ganz genau, dass es kein Zurück mehr geben würde, sondern dass sie jetzt nur noch nach vorn schauen konnten. Anton Beyer hatte Glück, in seiner Funktion wurde er für das Funktionieren des Transportsystems gebraucht. Bei Inge lagen die Dinge anders. Der Betrieb konnte sich noch bis zum Herbst 1990 über Wasser halten, dann wurde er liquidiert. Die am 1. Juni 1990 eingeführte D-Mark hatte alle Aufträge aus dem Osten wegbrechen lassen und im Westen waren die Erzeugnisse nicht gefragt. Sie wurde zunächst arbeitslos, aber fand schnell wieder eine Beschäftigung. Die Bezahlung war schlecht, aber sie hatte zumindest wieder einen Fuß in die Tür gekriegt. Abends ging sie zur Volkshochschule, sie belegte einen Computerkurs.
Die beiden Jungen standen wirtschaftlich bald auf eigenen Beinen, der Ältere hatte ein Lehre zum Elektronikfacharbeiter absolviert, der Jüngere Uhrmacher gelernt. Walter Lange, der Urenkel von Ferdinand Adolph Lange, hatte im Dezember 1990 die „Lange Uhren GmbH“ in Glashütte in Sachsen gegründet, und wollte so der ehemaligen Firma „A. Lange & Söhne“ neuen Glanz verleihen. Es war ein risikovoller Unterfangen, und trotz aller Warnungen seiner Eltern, bald ohne Arbeit auf der Straße zu stehen, bewarb sich Peter Beyer bei dem Unternehmen. Er wurde angenommen, bezog in dem noch verschlafenen Ort im Erzgebirge zunächst ein möbliertes Zimmer und sollte eine rasante berufliche Entwicklung bis zum Leiter der Qualitätskontrolle hinlegen. Gerd Beyer kam bei einem Autozulieferer unter und wurde später Fachbereichsleiter. Die Söhne hatten sich so gesehen erfolgreich von ihren Eltern abgenabelt.
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