Dennoch wurde er im Ort noch fündig. Vor gut 150 Jahren war in der Gegend eine kleine Siedlung entstanden, in der sich drei Familien niedergelassen hatten, die von der Köhlerei und etwas Landwirtschaft und Viehzucht lebten. Der damals dominierende Dreiseitenhof hatte die Zeiten einigermaßen unbeschadet überstanden und wurde 2001 in halbwegs noch gutem Zustand von einem bekannten Künstlerpaar gekauft. Nachdem das Hauptgebäude ausgebaut worden war, wurden die Flügel saniert. Einer nahm die Ateliers und Lagerräume auf, der andere war für Wohnzwecke zur Vermietung vorgesehen. Der Maler und die Bildhauerin waren zwei doch recht weltfremde und von der Sozialromantik geprägte Kreative, für die Geld oder gar Reichtum keine interessierende Kategorie war, weswegen sie ihre Finanzen auch durch einen Steuerberater verwalten ließen. Dieser war stets mehr als verblüfft, wenn er durch die Zahlungseingänge zur Kenntnis nehmen konnte, welche Beträge man mit dem seiner Meinung nach „wirren Gepinsel“ oder den „genmutierten gruseligen Gestalten“ im Verkauf erzielen konnte. Das behielt er selbstredend für sich, denn die mit ihm monatlich vereinbarte pauschale Vergütung betrug üppige 1.500 Neumark. Die wenigen Buchungen arbeiteten seine Angestellten innerhalb eines Tages ab. Gegen den Wunsch der Künstler, eine verträgliche Miete zu erheben, fand er keine schlüssigen Argumente, so dass Michael Berger ihr Mieter wurde. Die beiden Kunstschaffenden hatten weder Zeit noch Interesse sich mit ihm und den anderen Mietern abzugeben, so dass der Steuerberater die Prokura hatte, die Verträge zu unterzeichnen. Berger war mit der Wohnung hochzufrieden, ein kleiner Balkon erlaubte ihm den Blick auf den nicht weit entfernten Wald, und die Räume waren recht zweckmäßig geschnitten. Als er eingezogen war, gab es Im Dorf noch einen Fleischer, einen Bäcker und einen kleinen Supermarkt, in dem man alles bekam, was man an Nahrungsmitteln und Getränken benötigte. Für andere Dinge musste man in die nächstgelegene Stadt fahren, aber der Ort war auch an das Busnetz angeschlossen.
So gesehen war Michael Berger zwar nicht rundum glücklich, da ihm der Trubel der Stadt schon fehlte, aber alles in allem zufrieden.
Mohammad Aziz – Der Hoffnungsvolle
In den letzten Nächsten hatte er etwas besser geschlafen, denn die Ablenkung durch den Unterricht schien langsam Ergebnisse zu zeigen. Er erinnerte sich nur noch vage an die erste Zeit im Land welches sein Fluchtziel gewesen war, 2016 hatte er an einem Apriltag mit hunderten anderer Flüchtlinge von Österreich aus kommend, die Grenze zum Unabhängigen Europäischen Reformland – das damals noch den Namen Bundesrepublik Deutschland trug – passiert. Statt der erwarteten gründlichen Personenkotrolle war er wie alle anderen auch nur kurz gemustert, und dann zu schon wartenden Bussen durchgewunken worden. Eine Registrierung, so hörte er, sollte dann später in einer Behörde erfolgen. Aziz hatte während der langen Reise von Afghanistan aus seinen Pass wie einen Schatz gehütet, damit würde er seine Identität nachweisen können. Bei der Ankunft in der Unterkunft machte sich etwas Ernüchterung breit, denn er musste mit mehreren hundert Personen in einer großen Halle kampieren. Die Bettenbereiche waren zwar voneinander durch Sichtschutz abgetrennt aber es war ein nie abflauender Geräuschpegel in dem großen Gebäude vorhanden, und auch das Husten oder Schnarchen ließ ihn kaum zum Schlafen kommen. Wasch- und Sanitärräume waren nur wenige vorhanden, und diese ständig besetzt und schnell verdreckt. Die meisten der Leute konnten mit den europäischen Wasserklosetts nichts anfangen, und diese waren bald so verschmutzt, dass der Reinigungsdienst sehr oft anrücken musste. An dem Tag, als Mohammad Aziz eine mürrische und verhärmte Frau in unsauberen Arbeitssachen und mit Reinigungsutensilien in den Toiletten verschwinden sah fragte er sich das erste Mal, warum die Deutschen so etwas für die Flüchtlinge taten. Die Leute rings um ihn hatten wie er auch den ganzen Tag nichts zu tun und waren doch zu träge, irgendwelche Handgriffe zu erledigen, zum Beispiel die vollen Mülltüten die wenigen Meter in die Container vor der Halle zu bringen. Auch das mussten Deutsche erledigen, während die Leute in der Halle sich unterhielten, auf ihren Betten lagen und vor sich hin dösten oder an ihren Handys herumspielten. Auch die Essenausgabe wurde von anfangs noch sehr gut gelaunten Frauen vorgenommen. Sonst passierte weiter nichts, und Aziz als Bauer war es eigentlich gewohnt, den Tag bis zum späten Nachmittag auf dem Feld zu verbringen. Da er weder lesen noch schreiben konnte und auch kein Handy besaß räumte er eines Tages wenigstens die Mülltüten nach draußen und wurde gleich danach beschimpft.
„Warum machst du die Arbeit der Kuffar“ war er recht aggressiv gefragt worden „sie haben uns doch eingeladen, und Gäste müssen nicht arbeiten. Oder ist das bei euch anders?“
Mohammad Aziz war 19 Jahre alt und stammte aus der Provinz Helmand in der vor allem Schlafmohn angebaut wurde. Die Taliban hatten dies unter strenge Strafe gestellt, aber das Verbot später wieder aufgehoben. Also bewirtschaftete er das seiner Mutter gehörende Feld (sein Vater war als Soldat der Regierungstruppen gefallen) und verbrachte seine langen, anstrengenden und freudlosen Tage immer in der Furcht, von den Taliban zum Dienst in deren Reihen gezwungen zu werden. Irgendwann konnte er mit diesem Zustand von Angst und Unsicherheit nicht mehr leben und sprach mit seiner Mutter. Seine Familie war durch den scheinbar endlosen Krieg ohnehin schon fast zerstört worden, den einer seiner Brüder hatte sich den Taliban angeschlossen, der andere kämpfte für die Regierung und vielleicht trafen sie eines Tages zufällig aufeinander, jeder mit der Waffe in der Hand. Seine Mutter wollte wenigstens ihren jüngsten Sohn retten und borgte sich Geld bei Verwandten, sie würde es lange Jahre zurückzahlen müssen, aber es ging um ihr Kind. Mohammad Aziz fühlte beim Abschied Trauer, Scham und Verzweiflung, aber er ging mit den Vorsatz, seiner Mutter eines Tages alles entgelten zu können. Wie er in einem vollkommen fremden Land zurechtkommen und Fuß fassen sollte wusste er nicht, seine Vorstellungen vom Leben dort sollten sich schnell als absolut falsch herausstellen.
Trotzdem war es ihm wie ein Wunder vorgekommen, dass er Bargeld auf die Hand bekam, ohne etwas dafür tun zu müssen. Er war es gewohnt gewesen, für seine harte Arbeit von den Mohnhändlern nur einige Geldscheine zu bekommen, mit deren Gegenwert für Einkäufe seine Mutter und er gerade so leben konnten. Jetzt verfügte er auf einmal über eine für ihn unfassbar große Menge an Geld. Da er weder rauchte noch Alkohol wie die anderen trank hatte er nur minimale Ausgaben und wollte seiner Mutter schnellstens etwas von dem gesparten Geld schicken. Dieses Vorhaben wäre für ihn ohne die Hilfe eines Dolmetschers nicht durchführbar gewesen, denn er konnte weder lesen noch schreiben. Wenigstens besaß er einen Zettel mit der Angabe der Kontodaten des Onkels, der seiner Mutter das Geld geliehen hatte. Aziz kannte es nicht anders, als dass es ein gutes Gleichgewicht zwischen dem, der eine Arbeit leistete, und dem, der sie bezahlte, geben sollte. Er bekam Geld, also musste er folglich etwas dafür tun. Die anderen in seinem Bettenbereich bezeichneten ihn als Bauerntrottel und gingen in die Stadt, um an einem WLAN Bereich ihre Handys in Betrieb zu nehmen. Mohammed Aziz konnte weder mit einem Handy umgehen, noch wusste er, was ein WLAN war. Als die anderen zurückkamen merkte er, dass sie angetrunken waren. Einige Tage hielt er diese leeren und nicht vergehen wollenden Stunden in der Halle noch durch, dann ging er zum Dolmetscher und sagte ihm, dass er endlich etwas tun wolle. Der Mann zuckte hilflos die Schultern, eventuell sollte nächste Woche ein Sprachkurs anfangen, aber ob das tatsächlich passieren würde stände nicht fest. Er hätte zwar eine Liste und wenn er wollte, könnte Mohammad sich ja auf einem frei gewordenen Platz eintragen. Der junge Mann schwieg beschämt und der andere wusste genau, warum. Er trug Azizs Namen ein und sagte:
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