Dr. Jürgen Großmann hatte den Vormarsch des Staates zur Manifestierung der durch seine Institutionen wahrgenommenen Meinungsbildungs- und Durchsetzungsmacht ohne Einbeziehung der Bürger mit großem Unbehagen verfolgt. Allerdings war er aber auch Vater von Zwillingen, die nächstes Jahr das Abitur ablegen wollten. Was die beiden jungen Männer zu Hause manchmal für Meinungen in Bezug auf die gesellschaftliche Entwicklung äußerten hatte ihn ob ihrer Blauäugigkeit und verqueren Ansichten anfangs amüsiert, aber bald musste er einsehen, dass sie es ernst meinten. Beide argumentierten, dass sich der Begriff der Nation schon lange überlebt hätte, und die Zukunft demzufolge nur in einer vielkulturellen Gesellschaft zu finden wäre. Großmann hatte einmal gesagt, dass dann aber auch jeder einen adäquaten Beitrag zu deren Funktionieren zu leisten hätte. Nein, war ihm erwidert worden, es würde immer Menschen geben, die aufgrund der Unterdrückung in ihren ehemaligen Heimatländern und damit eventuell fehlender Bildung oder Ausbildung der unbedingten Solidarität bedürften, und falls sie die dadurch erlittenen Nachteile nicht in die Lage versetzen würden so einen Beitrag durch eine Beschäftigung gleich welcher Art zu leisten, müsste dann eben die Gemeinschaft für sie eintreten. Sie müsste ihnen ein Leben ermöglichen, das sich von dem der einer Arbeit nachgehenden Menschen in Bezug auf die verfügbaren finanziellen Mittel nicht, oder nur im geringen Maß, unterscheiden dürfe. Großmann hatte das Ganze ins Lächerliche ziehen wollen und entgegnet, dass er dann ab morgen zu Hause bleiben und seinen Hobbys nachgehen würde, wenn er dafür auch noch ordentliches Geld bekommen würde. An die dann folgende und sich immer mehr verhärtende Diskussion erinnerte er sich mitBestürzung. Er hatte keine Angst davor gehabt, dass seine Jungs eines Tages eine andere Meinung haben würden als er, das gehörte zum Leben. Dass sie aber so weltfremd ausfiel, an vielen Realitäten vorbeiging, und vermutlich gar nicht ihren eigenen Gedanken entsprungen war sondern Teil der ansonsten katastrophalen Bildungspolitik war, machte ihn nur traurig.
Am Tag darauf war er wieder wie immer zur Arbeit gegangen, schließlich war er ein wichtiger Mann, dessen Verantwortung vor allen darin bestand, das löchrige und manchmal kurz vor dem Kollaps stehende Stromnetz des Unabhängigen Europäischen Kernlandes mit seiner ganzen langjährigen Erfahrung vor dem Blackout zu bewahren. Einige Male hatte er mit seiner hochqualifizierten Mannschaft schon knapp davor gestanden, irgendwann würde dieser Katastrophenfall aber zwangsläufig eintreten müssen.
Dr. Jürgen Großmann hoffte inständig, dass er am Tag des GAU dienstfrei haben und es die Leute einer anderen Schicht treffen würde.
Wohnungsmangel, Umland von Düsseldorf,2025
Michael Berger hielt es immer noch für einen großen Glücksfall, vor sechs Jahren diese Wohnung gefunden zu haben. Ohne lange Bedenkzeit hatte er den Mietvertrag für die 43 Quadratmeter große 2 Zimmer Unterkunft unterschrieben und damit auch in Kauf genommen, jetzt gut 35 Kilometer von seiner Arbeitsstelle in Düsseldorf entfernt zu wohnen. In der Stadt selbst war Wohnraum schon lange unerschwinglich geworden und die 14 Neumark, die er für die Kaltmiete zu zahlen hatte, ergaben noch günstige 602 Neumark im Monat. Die seit Jahren wegen der vor allem stark gestiegenen Strompreise heftig hochgekletterten Betriebskosten lagen jetzt bei 6 Neumark pro Quadratmeter, so dass er insgesamt auf eine Mietbelastung von 860 Neumark kam. Das war nicht wenig für einen Single, aber er war doch mehr als froh, trotzdem noch so gut mieten zu können. Der Ort hatte eher dörflichen Charakter und lag an einer durch ein Waldgebiet führenden und schon ziemlich heruntergekommenen Straße. Die knapp 120 Einwohner hatten ihre Häuser schon in den frühen zweitausender Jahren links und rechts der Straße errichtet lassen. Damals konnte man durchaus von einer Landflucht vermögender Leute sprechen, denn die Gegend war durch eine sanfte Landschaft geprägt und mit dem Fahrrad war man innerhalb von 10 Minuten im nahegelegenen Waldgebiet. Der Pilzreichtum dort veranlasste die Leute sich auf den Weg dorthin zu machen und so hatten sie öfter Kontakt mit der zu dieser Zeit noch intakten Natur. Im Ort sorgte ein auf der linken Seite hinter den Grundstücken verlaufender kleiner Bach für die entsprechende Idylle, und die Landschaftsplaner der Siedlung hatten damals, zu jener Zeit spielte Geld keine Rolle, eine künstliche Staustufe angelegt und durch vorherige Aushubarbeiten einen doch recht großen Teich geschaffen. Durch den kontinuierliche Zu- und Abfluss des Wassers blieb die Flüssigkeit stets klar und sauber, allerdings auch im Sommer recht kalt. Da rings um den Teich Bänke angeordnet waren und man auch einen kleinen Kiosk aufgebaut hatte, wurde dieser Ort zu einem gefragten Treffpunkt und zum eigentlichen Kommunikationszentrum des Ortes. Mütter mit ihren Kindern waren die größte dort vorzufindende Gruppe, gefolgt von den Rentnern. Sinnvollerweise hatte man auch an die Kinder gedacht und im Teich einen nur 60 Zentimeter tiefen größeren Bereich eingerichtet, der mit 70 Zentimeter hohen speziellen Netzen, die an in den Grund gerammten Pfählen befestigt waren, perfekt gesichert war. Wie üblich, waren die Frauen bei den Rentnern in der deutlichen Überzahl, und diese übernahmen mit großer Freude die Betreuung und Beaufsichtigung der Kinder, so dass sich deren Mütter in Diskussionen über Gott und die Welt vertiefen konnten. Im Sommer gab es am Kiosk stundenweise einige Kleinigkeiten zum Essen, Getränke und Eis zu kaufen.
Etliche der Hausbesitzer standen mehr oder weniger kurz vor dem Renteneintritt. Da sie damals durch die Bank weg großzügig und mit erheblichen Wohnflächen in den Häusern geplant und gebaut hatten standen sie jetzt vor dem Problem, die durch den Wegzug der lange schon erwachsenen Kinder die frei gewordenen Räume wieder einer sinnvollen Nutzung zuzuführen. Als Hürde erwies sich zunächst, dass diese Bereiche fast alle im Obergeschoss lagen und im Falle einer Vermietung ein Zugang über den Hauseingang und die nach oben führende Treppe erforderlich wäre. Niemand wollte sich mit dieser Lösung so richtig anfreunden und man kam in gemeinsamen Beratungen zu dem Ergebnis, an der rückwärtigen, also von der Straße jeweils wegzeigenden Seite, eine Art Außentreppe anzubringen. So würde man sich nicht in Gehege kommen und jeder könnte seinen Wohnbereich ohne Störung des anderen nutzen. Die Baubehörde hatte naturgemäß gegen diesen Vorschlag Einwände, niemand hatte etwas anderes erwartet. Erst nach vielen Diskussionen, teilweise in einem gereizten Tonfall gegenseitig vorgetragenen Argumenten und recht langer Zeit, fanden beide Seiten einen Kompromiss. Die Treppenzugänge sollten mit geeigneten Materialien so verkleidet werden, dass sie das Ortschaftsbild nicht störten. Die Hausbesitzer ließen sich nicht lumpen, denn sie hatten schon lange berechnet, dass die zu erwartenden Mieteinnahmen diese Investitionen in weniger als 3 Jahren refinanziert hätten, und sie dann nur noch geringe Aufwendungen für die Instandhaltung der Mietobjekte aufbringen müssten, so dass die Einnahmen fast netto für brutto in ihre Kassen fließen würden. Man engagierte einen renommierten Architekten, der einen so überzeugenden Entwurf vorlegte, dass selbst die Baubehörde ihre Anforderungen als nunmehr erfüllt erklärte. Der Clou des Architektenentwurfs war die mit äußerst geringem Aufwand mögliche Anpassung der Treppenverkleidungen an das einzelne Haus. Auf diesem Wege entstanden interessante und optisch sehr ansprechende Lösungen. Michael Berger hatte sich anfangs für Wohnungen in den Häusern interessiert, aber aufgrund der viel zu großen Fläche und der damit verbundenen Mietkosten schnell wieder Abstand davon genommen.
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