„… als gar nichts, meinen Sie. Ja, vielleicht haben Sie recht. Es spricht eigentlich nichts dagegen. Ich habe nichts zu verstecken.“
„Gut, dann rufe ich gleich unseren Fotografen an. Der kann sich schon mal auf den Weg machen. Und wir zwei schreiben Ihre große Geschichte. Machen wir das so?“
„Ja, ist in Ordnung.“
„Gut, fein“, sagte Leon und telefonierte mit der netten Empfangsdame von vorhin: „Schickst du mir Kevin vorbei? Er soll einige Fotos für einen Artikel machen, soll mich mal kurz anrufen. Dann nenne ich ihm die Details und die Adresse und er kann schauen, was er braucht. Ciao, Süße.“
Was tut man nicht alles für einen Ausbildungsplatz?
„Mia, wann willst du denn endlich mal aufstehen? Immer dasselbe. Wenn sie frei hat, pennt sie den ganzen Tag.“ Mias Mutter, Yvonne Neumann, war wie üblich schon seit sechs Uhr auf den Beinen und machte für alle nacheinander das Frühstück. Ihr Mann Thorsten war seit fünf Stunden auf der Arbeit. Die Katzen wollten morgens auch gleich ihr Futter und ihre Schmuseeinheiten. Dazwischen blieb dann ein wenig Zeit für Arbeiten im Haushalt.
Mia Neumann nahm das Kissen, deckte es sich über den Kopf und zog die Decke drüber. Sie wollte nur ihre Ruhe, einfach nichts sehen und hören. Nur noch ein paar Wochen, dann könnte sie endlich machen, was sie wollte.
Mia hatte es langsam satt, das fremdbestimmte Leben bei ihren Eltern. Für ihr Nabelpiercing musste sie früher lange Diskussionen aushalten, bei der geplanten Tätowierung am Schulterblatt flippte der Vater fast aus.
„Was meinst du, wie das mit 60 aussieht?“, hatte er gefragt.
„Das interessiert mich doch nicht, ich bin jetzt 16“, antwortete sie damals.
Und so ging es immer weiter. Die Umgestaltung ihres Zimmers nach ihren Vorstellungen, der Motorradführerschein, der erste Freund.
„Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.“
„Schau mal, wie es hier wieder aussieht.“
„So etwas gab es früher nicht. Das hätte ich mir mal erlauben sollen.“
„Pass bloß auf, dass du nicht schwanger wirst. Mach erst einmal deine Ausbildung fertig.“
„Das ist viel zu gefährlich.“
„Bla, bla, bla.“
All diese Sätze ihrer Eltern führten bei Mia zu einem Reizzustand.
„Mia“, tönte es nun etwas bestimmter durch den Flur. „Wenn du frühstücken willst, dann komm jetzt sofort runter! Papa kommt schon bald von der Arbeit und du liegst immer noch im Bett.“
„Oh Mann, ich muss endlich hier raus“, dachte Mia.
Sie quälte sich unendlich müde und gähnend die Treppe hinunter, ging erst einmal auf die Toilette.
Ihr Freund Tim musste schon um halb sieben aus dem Haus. Als Autoschlosser begann die Arbeit um sieben. Sie hatten heute Nacht nicht viel geschlafen. Na ja, mit 17 dürfte das für die meisten eine normale Nacht gewesen sein. Sie hatten mit Freunden noch lange Musik gehört, sich mit PC-Spielen die Zeit vertrieben. Jeder hatte seinen Laptop und diese wurden miteinander per Datenfunknetz verknüpft, und bei Bedarf auch mit vielen anderen jungen Leuten außerhalb des Raumes. Das ging problemlos, weltweit. Hier konnten alle in Fantasiespielen der Realität entfliehen und waren Monster, Ritter, Astronauten, Sexbomben oder was auch immer man sein wollte.
Mia fand es lustig, wenn eine Nachricht innerhalb des Raumes ausgetauscht wurde, obwohl die betreffende Person eine Armlänge entfernt war. Doch es konnte auch reizvoll sein, mit Tim zu flirten und die anderen bekamen nichts mit. Eigentlich war das Leben dieser Generation generell so konstruiert: Sie verabredeten sich online, auch wenn der andere nur eine Straße weiter wohnte.
Natürlich wurde auch was getrunken, um Spaß zu haben. Obwohl Mia bei Alkohol vorsichtig war, um nicht zuzunehmen. Nur wer schlank war, hatte in der Szene eine Chance. Und das hatte Mia recht gut im Griff. Mit 180 Zentimeter und 47 Kilogramm, langen, blonden Haaren und meist topmodisch gekleidet, war sie bei den Jungs angesagt. Doch sie wollte hauptsächlich für Tim gut aussehen.
Tim war ihr echter Traummann. Er sah für die meisten Mädels richtig süß und scharf aus und das gefiel Mia. Und endlich hatte sie damit einmal einen Mann erwischt, der gut aussah und nicht schwul war. Und er hatte eine tolle Clique. Mit ihnen verbrachten sie die meiste Zeit beim Chillen, Billard spielen, Tanzen und so weiter. Leider stressten halt nur Mias Eltern, doch das sollte ja bald vorbei sein, wenn sie erst eigenes Geld verdiente.
Jetzt gab es erst mal im Schlabber-T-Shirt und kurzen Höschen bei Mutter ein selbstgemachtes Müsli und einen frisch gepressten Orangensaft. Okay, ab und zu musste sie schon mal hinterher den Finger in den Hals stecken, wenn sie doch ein wenig zu viel gegessen hatte. Sie machte eine Diät nach der anderen und verbrachte Stunden im Fitnessstudio. Von diesen Randerscheinungen des Schlankseins wollte und sollte natürlich niemand etwas wissen. Tim schien nichts davon zu ahnen, obwohl es manchmal schwer war, Abführtabletten und die Geräusche beim Erbrechen geheim zu halten.
Auf jeden Fall musste dann das Mittagessen flachfallen. Das würde sowieso niemand merken, denn sie war meist mit Freundinnen in der Stadt unterwegs, um zu bummeln. Sie musste die Zeit noch nutzen, denn ab Mai würden wieder andere Zeiten kommen. Sie hatte endlich eine neue Stelle in einem Seniorenstift bekommen.
Nach der Schule und nach langer Suche hatte sie ein Praktikum in einem Altenheim machen können. Sie war bedauerlicherweise etwas naiv, wurde schamlos über einen längeren Zeitraum für diese Arbeit mit einem Hungerlohn missbraucht. Fast ein Jahr lang hatte sie nicht viel mehr als ihre Fahrtkosten bekommen.
Für diese Stelle hatte sie sich beim Heimleiter manchmal erkenntlich zeigen müssen. Der Herr war etwa 55 Jahre alt und da lief sexuell bei seiner Frau zu Hause wohl nicht mehr allzu viel. Aber sie wollte die Stelle unbedingt. Tim wusste nichts davon und sollte es auch nie erfahren. Jetzt hatte sie ihren Ausbildungsplatz. Mit ihren Zeugnisnoten war es nicht einfach gewesen, einen Personalchef von sich zu überzeugen. In der Schule hatte sie immer nur das Nötigste gemacht. Sie hoffte nur, die Ausbildung würde nicht häufiger solche Gegenleistungen erfordern.
„Dann fangen wir mal an, Herr Kastor“, sagte Leon. „Sie haben also schon einmal eine Zeit lang für den Koblenzer Tageskurier gearbeitet. Wann war das denn in etwa?“
„Also, ich glaube, das müsste 1972-74 gewesen sein. Ich erinnere mich noch an die Berichterstattung über Olympia 1972. Mann, waren wir stolz – die Olympiade in Deutschland. Wir Kinder tauschten Olympiabildchen für ein Sammelalbum aus. Mark Spitz war der Renner. Dafür konnte man drei bis vier andere Bildchen tauschen. In München war dieses gigantische Olympiastadion gebaut worden. Und dann so etwas …“ Peter Kastor schaute betroffen in eine Ecke.
„Was meinen Sie?“, fragte Leon.
„Na, überschattet wurden die Spiele doch durch die Geiselnahme und Ermordung israelischer Athleten. Ich weiß noch, es gab einen Trauertag. Dann wurden die Spiele trotzdem fortgesetzt. Ich war damals gerade sieben Jahre alt. Habe gar nicht so richtig verstanden, was da ablief. Aber alle waren geschockt und das hat mir Angst gemacht. Tod, Gewalt und Terror. Und dieses Thema bestimmte in den folgenden Wochen die Berichterstattung. Ich habe immer nur die Bilder beim Austragen der Zeitung gesehen. Lesen konnte ich ja gerade nur so in den Anfängen. Im Fernsehen sah ich, was los war, und meine Eltern erklärten mir vieles.“
„Was war der Hintergrund? Wissen Sie es noch?“, fragte Leon.
„Ja, die Geiselnehmer forderten die Freilassung von Baader, Meinhof und von über 200 Palästinensern. Bei einem Befreiungsversuch starben zwar fünf Terroristen, aber auch alle Geiseln und einige Polizisten. Verhandelt wurde nicht. Dann kam die Trauerfeier im Olympiastadion und weiter ging es. Ich habe das damals nicht verstehen wollen und …“
Читать дальше