„Ja, das muss sein, denn ein Zimmer bleibt natürlich nie lange leer. Morgen oder übermorgen wird das Zimmer allerspätestens schon wieder belegt, nachdem alles gereinigt wurde und die neuen Möbel des Nutzers angekommen sind. Der neue Bewohner soll sich ja gleich zu Hause fühlen und nichts vom Vorgänger bemerken. Das würde doch ein seltsames Gefühl aufkommen lassen.“
„Ich verstehe, junge Dame, vielen Dank. Das ist alles sehr gut durchdacht und einfühlsam“, erwiderte Leon. „Dann wünsche ich einen ruhigen Dienst oder wie sagt man?“
„Ja, danke, das passt schon. Auch für Sie einen schönen Tag, Herr Walters. Schön, Sie kennengelernt zu haben.“
Dem geschulten Journalistenauge war natürlich der Name auf dem Türschildchen nicht entgangen. Gut, das war ein Anfang. Peter Kastor. Der Name würde sich sicher per Internet oder Telefonverzeichnis ausfindig machen lassen.
Die alte Eichenstanduhr schlug zehn Mal, und wie jeden Morgen um diese Zeit ging Peter Kastor durch die Hofeinfahrt zu seinem Briefkasten. Jeden einzelnen Basaltpflasterstein hatte er einst selbst liebevoll verlegt. Er nahm gerade vorher sein zweites Frühstück mit einer Tasse heißen, dampfenden Kaffees zu sich. Im Laufe der Jahre, mit zunehmender Schwäche seines Herzens, war er inzwischen auf eine entkoffeinierte Marke ausgewichen. Er hatte das sanfte Geräusch des gelben Kleintransporters schon die Straße entlangkommen hören, von Haus zu Haus. Ab und zu ein rollendes Geräusch der Seitentür, ein Klacken der Fahrertür, nach einem mit dem Näherkommen immer lauter werdenden Motorgeräusch, einem mehrfachen Klick und Klack des Briefkastendeckels war klar: Die Post ist da. Heute war auch etwas für ihn dabei.
Peter schaute aus dem Fenster und winkte dem Postboten zu. „Guten Morgen“, rief er.
„Schönen guten Morgen, Herr Kastor. Ich habe die Post schon in Ihren Kasten geworfen.“
„Danke, ich hole sie gleich. Schönen Tag noch.“
„Für Sie auch, Herr Kastor“, antwortete der Briefträger, stieg wieder in sein gelbes Postauto und fuhr weiter.
Peter Kastor ging gemächlich die Treppe hinunter, sofern man diese Bewegung noch gehen nennen konnte. Leider fiel es ihm immer schwerer, in dem doch über die Jahre lieb gewordenen Haus, die Stufen hinauf oder hinunter zu kommen und der Einbau eines Liftes lohnte ja nun nicht mehr. Tja, er wurde eben alt. Daran erinnerten auch die beiden langen Narben auf den Oberschenkeln als Zeichen der künstlichen Hüftgelenke, die ihm vor 20 Jahren eingesetzt wurden.
„Auuuh, es scheint wieder Regen zu geben“, sagte er leise. „Wäre ich doch damals nur nach Mallorca umgezogen, als es noch ging.“
Er drehte den Schlüssel im ebenfalls in die Tage gekommenen, etwas angerosteten Schloss des Briefkastens und nahm die Post heraus.
„Werbung, Werbung, Werbung und Rechnungen“, sagte er.
Als einzigen richtigen Brief erblickte er einen amtlich aussehenden blauen, größeren Umschlag mit dem Wappen des Landes in der oberen linken Ecke.
„Was ist denn das?“, fragte sich Peter Kastor.
Der Schriftzug des Frankierautomaten zeigte: „Seniorenheimverwaltung des Landes Rheinland-Pfalz“.
Es lief ihm eiskalt den Rücken hinunter und dennoch stieg gleichzeitig eine Hitze in den Kopf. So wie früher, wenn er glaubte, vielleicht zu schnell gefahren zu sein.
„Gibt es Punkte, nur ein Verwarnungsgeld oder ist der Führerschein weg?“ Er spürte sein Herz bis zum Hals schlagen und las: „Ihr Seniorenmobilitätstest mit 72 Punkten und die ärztliche Untersuchung zeigten erhebliche Selbstversorgungsdefizite. Nach dem Seniorenversorgungsgesetz fordern wir Sie daher hiermit auf, sich am 14. Mai bis 10:00 Uhr im Verwaltungstrakt des Seniorenheimes Moselblick, in Koblenz-Güls, mit ausgefüllten Anmeldeformularen zu melden. Bitte hinterlassen Sie Ihre Wohnung gereinigt und in ordentlichem Zustand …“
Fast hätte er die Hacken zusammengeknallt und „Jawoll!“ gerufen. Das klang wie damals, als er mit 18 zur Bundeswehr musste. Bei dieser Musterung war er besser weggekommen. Da hatte er Tauglichkeitsgrad 1 und war für alles geeignet. In wenigen Tagen wäre es also soweit. Er musste erneut einrücken.
Kurz schweiften seine Gedanken in der Zeit zurück. Seine Eltern waren Bauern im Rheinland und froh, als Peter mit 16 Jahren in einer kleinen Autofirma am Ort unterkam, denn sein zwei Jahre älterer Bruder wollte den Hof übernehmen und für zwei reichte es bei den damaligen Preisen für Milch und landwirtschaftliche Produkte nun wirklich nicht, obwohl der Hof an die 50 Kühe hatte und große Felder bestellt wurden.
Bei seiner Musterung gab er damals an, gerne länger dienen zu wollen und Kraftfahrzeugmechaniker waren auch bei der Armee gesucht. Er war gesund und ungebunden und so sprach seinerzeit nichts dagegen. Ein Nachbar brachte ihn zum Bahnhof, denn für ein Auto reichte es bei den Kastors nicht und das Bahnticket war ja schon von der Armee bezahlt. Mutter stand beim Abschied weinend im Hof, doch er freute sich innerlich, endlich von zu Hause wegzukommen. Nicht, dass er unzufrieden war mit seiner Kindheit und Jugend, aber er sehnte sich nach etwas Neuem. Bereits nach der ersten Hausbiegung fühlte er etwas wie Freiheit und den Beginn eines neuen Lebens. Bei den Gedanken an diese Zeit kam ein Schmunzeln in sein Gesicht.
Peter spürte die ersten Regentropfen auf der Kopfhaut und ging zurück ins Haus. Der eben geöffnete Brief roch irgendwie muffig und es fühlte sich dieses Mal so ganz anders an. Es war kein Neuanfang, es war ein Abschied, vom Bauchgefühl her. Er hätte gerne alle, auf Flohmärkten gesammelten, lieb gewonnenen Gegenstände mitgenommen. Doch das war nicht erlaubt. Er stand vor seiner Sammlung von alten Postkarten, die ein ganzes Regal füllte, seinen mühsam zusammengetragenen alten Möbeln und sagte Lebewohl.
Er musste seine Wohnung an eine junge Familie abgeben. Die würden mit Sicherheit keines dieser Möbelstücke zu schätzen wissen, sondern in einem Müllcontainer entsorgen oder beim Sperrmüll rausstellen. Doch die neuen Besitzer finanzierten durch den Kauf seinen dritten Lebensabschnitt.
Damals wurde klar, dass bei der ständig steigenden Zahl an alten Menschen einige Abläufe staatlich geregelt werden müssten. Der familiäre Zusammenhalt und der Generationenvertrag funktionierten schon lange nicht mehr und es gab auch nur noch begrenzte Möglichkeiten für ständige Häuserneubauten. Alte Menschen wurden misstrauisch und fast schon feindselig betrachtet. Sie leisteten nichts mehr und kosteten nur Geld – jedenfalls aus Sicht der jungen Generation.
Die alte Generation hatte die Schuldenberge aufgebaut und in Saus und Braus gelebt. Das sollten jetzt alles die Jungen ausbaden – Sauerei! Außerdem war Selbstverantwortung und Laufenlassen noch nie eine Stärke der deutschen Gesellschaft. Hier sollte immer möglichst alles bis in die Details geregelt sein und das auch noch schön sozial verträglich. Bloß nichts der Selbstverantwortung überlassen, denn ein Großteil der Bevölkerung ist aus Sicht der Politik offensichtlich zu dämlich, das Leben und die Zukunft selbst zu regeln. Deshalb wurde das Seniorenversorgungsgesetz fast einstimmig von allen Parteien verabschiedet.
Peter war mit seinem Leben zufrieden. Er war mit der Armee viel herumgekommen, war in einigen Auslandseinsätzen der Armee und lernte dabei die Welt kennen. Das war zwar nicht immer ungefährlich, wie ihm sein vernarbter Streifschuss von einem Taliban-Angriff in Afghanistan noch bei Wetterwechseln versicherte. Es war aber nie langweilig, na ja, fast nie und die Kameradschaft war einfach etwas Tolles. Er machte seinen Kraftfahrzeugmeister bei der Bundeswehr und machte sich später dann nach dem Ausscheiden selbständig. Er kaufte eine kleine Autowerkstatt auf, die keine bestimmte Marke bediente, sondern alles reparierte, was auf den Hof kam. Bei dem jährlich anfallenden Besuch der Dorfkirmes in der Heimat lernte er dann mit 27 seine Frau Susanne kennen.
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