„Aber fehlt den älteren Menschen damit denn nicht die Zuwendung? Sind sie wirklich zufrieden mit so etwas?“, hörte er sich selbst sagen.
Ein strenger Blick von Frau Liebenstein fiel zu ihm.
„Dürfte ich Ihren Namen wissen, junger Mann? Einfach, damit ich Sie alle bei der Gelegenheit mal kennenlernen kann.“
„Gerne, Leon Walters, Frau Liebenstein, Koblenzer Tageskurier.“
„Schön, Sie kennenzulernen, Herr Walters. Ihr Chef, Herr Paffrath, sprach in höchsten Tönen von Ihnen. Eben noch habe ich mit ihm telefoniert“, entgegnete Frau Liebenstein.
Leon wechselte ein wenig die Farbe. Damit hatte er nicht gerechnet. „Gerissenes Biest“, dachte er.
„Auf diese Frage habe ich gewartet. Sie wird immer wieder gestellt. Gleich werden Sie die Antwort sehen. Wir haben natürlich das ebenfalls computergesteuerte Haustier, nach Wahl des Bewohners, Katze, Hund, Vogel und garantiert keim- und flohfrei.“
Wieder ging ein Lachen durch die Besuchergruppe.
„Haben die auch eine Körpertemperierung, Frau Liebenstein“, schob Leon Walters schnell die Frage ein.
„Aber selbstverständlich, Herr Walters, außer den Hausfröschen und den Fischen haben alle 37 Grad, sodass es sich auch wirklich kuschelig anfühlt. Möchten Sie mal fühlen?“
„Wow, gut gekontert“, dachte Leon. „Danke, später vielleicht. Das scheint ja wirklich bis in die Details durchdacht zu sein“, antwortete er mit einem Lächeln auf den Lippen.
„Jetzt passen Sie einmal ganz genau auf. Es kommt noch besser. Hier sehen Sie Frau Müller, 78 Jahre alt. Einen kleinen Applaus für Frau Müller, die sich für diese Demonstration zur Verfügung gestellt hat.“
Die Menge applaudierte.
„Sie leidet seit 20 Jahren an Diabetes und muss deshalb im Blutzucker überwacht werden. Ihre Schmusekatze übernimmt das. Achtung, wir haben jetzt eine Minute vor zehn Uhr. Schauen Sie einmal ganz genau hin.“
Frau Müller streichelte ihre Katze und es schien beiden zu gefallen. Plötzlich fauchte die Katze und haute mit ausgefahrenen Krallen in den Arm.
„So, das war die Blutentnahme, und hier am Display können Sie ablesen: Blutzucker Müller 90 um 10 Uhr. Ist das nicht toll?“
Frau Liebenstein überschlug sich dabei fast in ihrer eigenen Begeisterung. Die Menge raunte und murmelte.
„Und nicht zu vergessen unseren ASS“, fuhr sie fort und fügte hinzu: „Früher war das die Revolution einer Kopfschmerztablette. Heute ist das die modernste, sensibelste Schmusemaschine auf dem Markt. Ebenfalls von der innovativen MMF, der Medizinischen Maschinenfabrik in Dresden wurde der Alten-Schmuse-Sessel, kurz ASS oder für den weltweiten Einsatz in Englisch OPC, old people´s chair, entwickelt. Sie werden ihn gleich sicher irgendwo in Aktion sehen, denn irgendwo schmust irgendwer immer.“
Neuerliches Lachen.
„Und ich sage Ihnen, der kann sogar noch mehr als schmusen, denn jeder hat ja so seine Bedürfnisse, nicht wahr, meine Damen und Herren? Das könnte dann sogar den Enkel interessieren, was der Sessel so alles draufhat. Aber das lassen wir heute.“
„Schade, jetzt wo es doch spannend wird“, warf Leon ein.
Ein letztes Lachen ging durch die Menge.
Anna Liebenstein warf ihm ein Augenzwinkern zu. „Ein anderes Mal vielleicht, Herr Walters. So, damit wären wir am Ende unserer heutigen Presseführung. Weitere Fragen stellen Sie bitte schriftlich mit Ihrem vorläufigen Artikelentwurf, den ich, wie immer bis morgen früh, um sieben Uhr, in meinem Email-Postfach erwarte, denn ich habe heute leider noch sehr viel zu tun. Wir erwarten zehn neue Heimbewohner, die ja alle gerne individuell begrüßt werden möchten. Auf Wiedersehen, meine Damen und Herren – spätestens mit 70.“ Anna Liebenstein verschwand mit einem Lächeln auf den Lippen im Aufzug. Ein paar Kameras und Blitzlichter klickten und weg war sie.
Leon Walters spürte eine Mischung aus ganz tief im Bauch empfundenem Ärger und gleichzeitig auch Faszination. So elegant und charmant war er schon lange nicht mehr abgekanzelt worden. Die Mischung aus Wut und Erregung wurde zu einem innerlichen Beben, das seinen Ausgang suchte.
„So eine arrogante Gans, lässt uns einfach hier so stehen“, entfuhr es ihm. Das milderte seine Unruhe nur minimal. „Blöde Kuh!“ Schon besser. „Na, der werde ich es zeigen.“ Gut, das war der Impuls, der weiterführen könnte. „Ich werde einen Artikel schreiben, über den sie noch lange nachdenken wird, diese Schnepfe.“ Er wusste aber auch schon wenige Augenblicke später, dass durch den Auftrag seines Chefs der Spielraum gegen null ging. Den Ärger würde er also runterschlucken müssen.
Leon Walters erfuhr Respekt und Aufmerksamkeit bei Veranstaltungen, die er besuchte. Jeder wollte eine gute Presse. So etwas wie heute war ihm noch nie widerfahren. Dabei wäre Anna Liebenstein sogar so etwas wie sein Typ, wenn man das so ausdrücken konnte. Sie hatte etwa sein Alter. Er schätzte sie so um Ende 30, Anfang 40. Im Laufe der Jahre hatte er so seine Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht gemacht. Er wirkte auf Frauen, sicher einerseits aufgrund seines Charmes und des Intellektes, den er zweifelsfrei hatte.
Schon im Studium der Germanistik und im Nebenfach des Journalismus bemerkte er oft die Blicke der Mitstudentinnen. Auf Partys hatte er immer sehr schnell Kontakt, der auch meist bis zum nächsten Morgen dauerte. Äußerlich bevorzugte er eher den sportlich-legeren Stil in seinen Klamotten. Nur sehr selten sah man ihn in Anzug und Krawatte. Und das war bis heute so geblieben. Er hasste Verkleidungen, wie er sie nannte. Andere konnten machen, was sie wollten, aber er wollte durch sein Inneres überzeugen, nicht durch seine Fassade. Obwohl, manchmal war er sich da nicht ganz so sicher. Warum schauten ihm alle hinterher? Sein Inneres kannten sie dann ja wohl noch nicht.
Und trotz der Beliebtheit bei den Damen war Leon immer solo gewesen. Mehr als ein kurzer Flirt, höchstens über einige Wochen, war nicht drin. Dann brauchte er seine Freiheit zurück. Dann störte plötzlich die Nähe der anderen Person. Er fühlte sich eingeengt und fast erdrückt.
„Wie kriege ich eine spannende Geschichte über den Moselblick hin?“ Klar, einen kurzen Artikel über Moselblick und Frau Liebenstein für den Chef musste er ja wohl zähneknirschend abliefern. Aber nur die Show heute zu beschreiben, das wäre doch gegen jede Journalistenehre.
„Ihre Artikelentwürfe erwarte ich, wie immer, bis morgen früh in meinem Email-Postfach. Für wen hielt die sich eigentlich? Insiderinformationen müssen her. Vielleicht sollte ich mal nach einem neuen Bewohner Ausschau halten, der frisch nach Moselblick kommt. Der wäre sicher noch nicht unter der Fuchtel der Liebenstein und es würden am ehesten unverfälschte Informationen dabei herauskommen. Gut, Leon, wie kommst du an die Daten der Neuen? Bei der Schreckschraube werden sicher alle vom Personal vorsichtig sein, Daten herauszurücken.“
Walters lief durch die Flure des Seniorenstifts und das Schicksal meinte es gut mit ihm. Eine Pflegerin wechselte gerade Namensschilder aus.
„Na, Schichtwechsel im Seniorenstift finden sicher sehr häufig statt, nicht wahr? Ich meine bei den Bewohnern, nicht beim Personal“, schob Leon nach. Er sah fragend zu der jungen Dame.
Die junge Krankenschwester schaute ein wenig verunsichert.
„Oh, tut mir leid, ich vergaß, mich vorzustellen. Mein Name ist Leon Walters vom Koblenzer Tageskurier. Ihre Chefin, Frau Liebenstein, war so liebenswürdig, uns die Einrichtung zu zeigen und nun schauen wir uns alle noch ein wenig um.“
„Ach so, ja, das Sterben gehört hier leider dazu. Aber dafür kommen ja auch immer wieder neue, liebenswürdige Bewohner.“
„Und Sie wechseln gerade die Schilder aus?“, fragte Leon.
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