Peter stand im Wohnzimmer und schmunzelte, während er in Gedanken sein Leben Revue passieren ließ. Heute noch fühlte er sein Herz höher schlagen, wenn er nur an sie dachte oder den Namen aussprach: „Susanne.“
Sie standen sich damals gegenüber und merkten gleich: „Das ist es!“ Vorher fühlten sich beide oft wie Menschen auf einem falschen Planeten. Es fragte sich nur, wer die Außerirdischen sind – die anderen oder sie selbst. Und nach langer Zeit trafen sich hier dann einmal zwei Bewohner des gleichen Planeten, die sich sofort verstanden. Sie schauten sich in die Augen und es fühlte sich an, als würden sie sich schon ein Leben lang kennen.
Kurz darauf wurde Susanne schwanger und es wurde geheiratet. Schon damals zogen sie in die Doppelhaushälfte mit gepflegtem Vorgarten. Dann kam Daniel zur Welt und fünf Jahre später Annika. Sie verbrachten beide eine glückliche Kindheit in dem Haus und die Kinder hatten viel Platz zum Spielen. Peter nahm das alte Kinderfoto vom Wohnzimmerschrank und schaute es an.
Nun waren sie auch schon lange fort. Daniel war jetzt 42, arbeitete als Architekt für einen großen Konzern in Asien und Annika war 37 und als Herzchirurgin an einer Universitätsklinik sehr gefragt. Freizeit gab es kaum und Peter hatte seine Kinder sicher schon zwei Jahre nicht mehr gesehen. Doch Arbeit geht vor, erst recht in diesen schlechten Zeiten. Jedenfalls tröstete sich Peter damit, an den langen, einsamen Winterabenden, wenn er am Fenster in die Ferne blickte und an sie dachte. „Was mochten sie wohl gerade tun?“ Peter fand einfach keine Ruhe. Er fühlte sich heute wie ein Panther im Käfig. Ein grauer Panther.
Er ging noch einmal in den Hof und schaute sich ein weiteres Mal um. Das Haus war damals kurz vor dem Einzug von einer Firma schlüsselfertig hergerichtet worden und der Garten war Peters ganzer Stolz, denn hier konnte er mit viel Arbeit das Reihenhäuschen kreativ von seinen Nachbarhäusern abheben. Er liebte Gartenarbeit, bis es dann irgendwann im Alter mit den Knochen immer schwieriger wurde. Da musste er schweren Herzens zuschauen, wie täglich mehr das Unkraut in dem ständigen Kampf siegte. Selbst in der Hofeinfahrt stieß ein Kraut nach dem anderen durch die Ritzen, so als wollte es sagen: „Unkraut vergeht nicht!“ Und auch den Baumarkt besuchte er nicht mehr so häufig. Er schaffte es sowieso nicht mehr, die Arbeiten selber zu verrichten. Er merkte, es wurde Zeit und nun war er ja auch gekommen, der Einberufungsbescheid.
Peter schlurfte zurück ins Haus. Im Flur betrachtete er sich in dem Ganzkörperspiegel, den noch Susanne aufhängen ließ. Sie musste sich immer, wie jede typische Frau, stundenlang von allen Seiten in einem Spiegel ansehen, um zigfach die Klamotten zu wechseln, den Po zu betrachten und so weiter. Hier stand sie oft und besah sich und er musste von der Seite schmunzeln, wenn er sie dabei beobachtete. Er liebte sie so sehr und als sie von ihm ging, sah er lange keinen Grund mehr weiterzuleben. Sie war fünf Jahre jünger als er und hätte doch noch so viel Zeit gehabt. Aber sie bekam Darmkrebs. Bei einer Routineuntersuchung fiel es auf. Es war fast paradox. Susanne, die peinlichst genau alle Vorsorgeuntersuchungen wahrnahm, wie ein Buchhalter, starb an Krebs. Und dabei hatte sie sich immer Sorgen um ihn gemacht, der egal, welche Signale der Körper auch gab, alles ignorierte und nie zum Arzt ging.
Die Krankheit war schon weit fortgeschritten und trotz Chemotherapie und Operation blieben ihnen noch sechs Monate. Einen Großteil der Zeit verbrachte sie davon mit Schläuchen, Übelkeit, Durchfall und Schmerzen im Krankenhaus. Er saß die meiste Zeit neben ihr am Bett. Was sollte er ohne sie zu Hause. Sie war sein Zuhause. Während dieser Zeit war er stark – stark für sie.
Sein Zusammenbruch kam dann nach ihrem Tod. Alles verlor erst einmal seinen Sinn. Sie redeten kaum über die Krankheit und den Tod und heute wünschte er sich oft, sie hätten mehr offen geredet und nicht über Belanglosigkeiten. Er redete oft zu ihr, in Gedanken, vor ihrem Bild, oder auch, wenn er abends wach im Bett lag und alleine nicht einschlafen konnte.
Im Spiegel sah er einen Herrn, 175 Zentimeter groß, etwa 70 Kilo schwer. Er wusste es genauer, es waren nur noch 68, nachdem er immer weniger Lust hatte, sich etwas zu kochen. Da war es schon gut, dass er kaum noch die Kraft hatte, sich zu bewegen. Von der Erscheinung und vom Alter her könnte man ihn, na sagen wir auf 62, höchstens 64 Jahre schätzen. Wenn, ja wenn die Glatze nicht wäre. Bis vor kurzem trug er noch ein Toupet, doch er bekam das einfach nicht mehr alleine auf die Reihe, es ordentlich zu pflegen und zu platzieren. „Tja Peter“, sagte er zu sich, „du 72-Punkte-Mann, dann nimm mal langsam Abschied, es geht bald los.“ Die Türglocke läutete. Peter war im Spiegelbild noch einen Moment gefangen. Es läutete wieder. „Moment, ich komme.“
An der Klingel stand Peter und Susanne Kastor. Das beleuchtete Schildchen hinter dem kleinen Kunststofffenster wirkte schon vergilbt und etwas in die Jahre gekommen. Es passte zum Ambiente. Es war gut erkennbar, dass das Anwesen schon einmal bessere Zeiten erlebt hatte. Die Vorgärten waren liebevoll gestaltet. Es sprang dem aufmerksamen Besucher sofort ins Auge, dass hier jemand Schwierigkeiten hatte, alles im Schuss zu halten, sei es wegen der Finanzen oder auch wegen zunehmender Gebrechlichkeit.
Da dieser Besucher die Hintergründe kannte, musste er von Letzterem ausgehen. Es klingelte mit einer netten Melodie. Nichts passierte. Nach etwa einer Minute klingelte er noch einmal. Langsame und schlurfende Schritte waren zu hören und wurden lauter. Die Tür öffnete sich.
„Guten Tag. Was kann ich für Sie tun, junger Mann?“
„Guten Tag, Herr Kastor. Ich nehme doch an, Sie sind der Hausherr?“, fragte der Besucher freundlich.
„Ich kaufe und brauche auch nichts“, kam die Antwort von Peter Kastor.
„Mein Name ist Leon Walters, Chefredakteur vom Koblenzer Tageskurier. Sie werden sich sicher wundern, doch ich habe erfahren, dass Sie in die Seniorenresidenz Moselblick einziehen werden und wir sind auf der Suche nach jemandem, den wir bei den ersten Schritten in die Residenz begleiten dürfen. Könnten Sie sich das vorstellen?“
„Hmm, ich weiß nicht, was bedeutet das für mich?“, fragte Peter Kastor.
„Darf ich reinkommen, dann könnten wir das in Ruhe besprechen?“
„Ja, warum nicht? Kann ich Ihren Ausweis sehen, man weiß ja heutzutage nie.“
„Natürlich, hier ist mein Ausweis und ein Kärtchen für Sie.“
„Leon Walters, Chefredakteur Koblenzer Tageskurier“, las er laut vor.
„Ja, Herr Kastor, unsere Devise: Koblenzer Tageskurier – Wir bringen es morgens und auf den Punkt. Kennen Sie unsere Zeitung?“
„Aber natürlich, ich wohne schon eine halbe Ewigkeit hier und Ihre Zeitung kenne ich von klein auf. Habe sie sogar mal zwei Jahre lang in aller Herrgottsfrühe ausgetragen.“
„Na, da haben wir doch schon eine Geschichte: vom Zeitungsausträger zum Titelhelden. Was sagen Sie dazu? Wäre das nichts?“
„Meine Geschichte heißt eher: vom Jüngling zum alten Sack. Der alte kaputte Sack wird nun entsorgt. Müll und fertig …“
„Aber, aber, Herr Kastor. Warum so zynisch? Haben Sie sich Moselblick mal angesehen? Es ist sehr schön dort.“
„Nein, das habe ich mir als Überraschung für den Tag X aufgehoben. Wissen Sie, ich hänge an meinem alten Häuschen. Es ist mein Leben. So viele Erinnerungen müssen Sie wissen.“
„Das kann ich mir gut vorstellen. Wollen Sie nicht ein wenig darüber erzählen, unsere Leser teilhaben lassen und wenn es gedruckt ist, mit vielen Fotos, versteht sich, dann haben Sie doch auch ein schönes Erinnerungsstück. Nicht so toll wie das Original, aber besser als …“
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