Sie sah ihn nachdenklich mit einer kleinen, senkrechten Falte zwischen den Augenbrauen an.
Und vielleicht gehe ich überhaupt zur See wie mein Bruder Alwert, sagte er und brach rotübergossen ab. Sie zogen ihn genug auf mit seinem Bruder Alwert. Was ist eine Syntax? fragte er hastig.
So ein Buch, aus dem man lernt, wie … begann sie.
Es war ein Wunder. Sie hatte entschieden keine Ahnung, was sein Bruder Alwert getan hatte. Draußen ertönte rasches Räderrollen auf dem Kopfpflaster des kleinen Marktplatzes vor der Superintendantur.
Das sind unsere Pferde, rief sie rasch und lief ans Fenster. Er stellte sich neben sie. Der offene gräfliche Jagdwagen rollte, von zwei Füchsen gezogen, vorüber. Der backenbärtige Kutscher hatte seine kleine Herrin gesehen und grüßte sie ernsthaft, indem er die Peitsche gegen den Zylinder hob.
Er hat mich hergefahren, sagte sie eifrig. Er fährt mich jeden Morgen her, und mittags holt er mich wieder ab. Siehst du den Fuchs mit der Blässe? Sie sollte voriges Frühjahr fohlen, aber der Tierarzt hat alles verkorkst, und das Fohlen ist an der Nabelschnur erstickt. Die Senta wäre beinahe verreckt.
Was habt ihr mit ihr getan? fragte er gespannt.
Papa – sie betonte auf der zweiten Silbe – hat den Tierarzt rausgeworfen und hat ihr einen Liter schwarzen Kaffee mit Kognak gegeben. Sie hatte schon Herzschwäche.
Der Wagen war längst über den Marktplatz fortgerollt, beide aber standen sie noch am Fenster.
Ist das dein Papa? fragte er mit kräftigem Ton auf der ersten Silbe, der auf dem Bock?
Aber nein doch, sagte sie sehr erstaunt, das ist bloß der Kutscher Eli! Und als er noch immer nicht verstand: Ich bin doch die Christiane!
Er hatte keine Ahnung, wer die Christiane war, aber wie sie es sagte, musste es eine sehr wichtige Person sein, und in ihm dämmerte etwas. Zudem hatte er ihre sehr großen, dunklen Augen ganz dicht vor sich, und er fühlte irgendwas, dass sie nicht nur Christiane hieß, sondern wirklich »die Christiane« war, ganz gleichgültig, was das nun sein mochte.
Dann gehört dir also der Wagen? Und die Pferde? Und der Kutscher?
Nein, meinem Papa.
Und du wohnst auf dem Schloß?
Er hatte das Schloß immer nur wie einen Märchenpalast durch Busch- und Baumlücken aus weiter Ferne gesehen, denn es lag in einem großen, umgitterten Park.
Ja, da wohne ich, sagte sie und fing leise an, über den Bauernjungen zu lächeln.
Da habt ihr wohl so viel Geld, wie ihr wollt? fragte er unerbittlich weiter.
Das kommt auf die Jahreszeit an, sagte sie. Manchmal sehr wenig, gar nichts. Dann schickt der Rentmeister alle mit ihren Rechnungen weg und Papa ist ewig brummig. Aber nach der Raps- und Weizenernte kann ich mir wünschen, was ich mag.
Er war nicht sehr zufrieden über diese Auskunft. Geldmangel auf einem Schloß störte seine Illusionen. Und wie sagst du zu deinem Papa? Redest du ihn Herr Graf an?
O Gott, nein! lachte sie nun hell heraus. Ich sage zu ihm »Nuschelpeter« oder »Armer Einsamer« oder »Alter Greiser«. Er hat furchtbar viele Namen. Meistens sage ich aber einfach Pitt.
Johannes Gäntschow wurde immer unzufriedener. Ihn befriedigten ihre Antworten gar nicht. Er kam auf den Verdacht, dass sie vielleicht doch nicht die richtige Tochter sei.
Darfst du denn mit ihm essen? fragte er vorsichtig.
Natürlich, sagte sie, ich und die Miss und die Mademoiselle essen immer mit Papa.
Wer sind denn das?
Das sind meine Erzieherinnen.
Und warum gehst du dann zum alten Marder, wenn du zwei Erzieherinnen hast? Er war jetzt fest davon überzeugt, dass sie ihn anlog.
Weil ich richtig aufs Gymnasium soll. Weil ich Pitts Einzige bin und das Gut erben soll. Und Pitt sagt immer, ich kriege doch nur einen Flachkopf, wir Fiddes haben kein Glück im Heiraten. Und dann muss ich die Wirtschaft allein führen können.
Johannes starrte sie immer fassungsloser an. Sicher war sie eine schreckliche Lügnerin, wenn sie auch mit ihren Augen gar nicht danach aussah. Er bereitete schon wieder eine neue Frage vor, mit der er sie richtig ins Gedränge bringen wollte, als die Tür aufging und Superintendent Marder hereinwutschte. Er rieb sich die kalten, frostroten Hände und sagte eilig: Na, am Fenster? Jetzt ist Schulstunde. Da ist dein Platz, Hannes, los! Bitte, setze dich, Christiane.
Und sofort begriff Johannes, dass sie doch die Wahrheit gesagt hatte, die ganze Wahrheit, begriff es aus dem verschiedenen Ton, mit dem Marder sie und ihn anredete.
Na, wie ist es mit mensa? fragte der eilig. Los, los, Johannes, mensa, mensae … jede Stunde kostet deinen Vater Geld, denke immer daran, mensae, mensam, aber was ist das mit dir? O mensa! Na, nichts, – Christiane?
Wir haben erst einmal Bekanntschaft geschlossen, Herr Marder.
Schön, schön, aber dieser Junge muss richtig lernen. Er kostet seinen Vater immerzu Geld. Und sein Vater hat nicht viel, Christiane.
Ich muss auch richtig lernen, Herr Marder, sagte Christiane ernsthaft, und ich koste meinen Vater auch jede Stunde Geld. Sieh her, Hannes, hier auf der ersten Seite, das ist eine lateinische Satzlehre, Syntax heißt Satzlehre. Du hast mich vorhin gefragt. Und mensa heißt auf lateinisch der Tisch …
Na schön, na schön, sagte der Superintendent, macht denn so fort. Ich muss nur mal … Er rannte hinaus, in die Scheune, wo sie mit dem Flegel Roggen droschen, damit Langstroh zu Ernteseilen da wäre. Es hatte ihm so geklungen, als wenn der Takt stolperte, nicht munter vorwärts ging. So lief er eilig und ärgerlich (er war immer eilig und ärgerlich), er hatte gar keine Zeit mehr dafür, richtig auf den Dreschtakt zu achten, sondern er nahm dem nächsten Mann gleich den Flegel weg.
Aber Kinnings, rief er zu den großen Tagelöhnern, zwischen denen er wie eine kleine rötliche Ratte stand, heißt das dreschen? So muss das gehen! Und er schlug los, wobei er den Takt wie eine liturgische Antwort mit einem alten Bauernvers vorsang: Der Walter im Malter, da drischt er das Korn. Ich komm nicht dahinter, so machst du’s von vorn.
Hoppla, Herr Superdent, sagte der alte Behn und traf den Flegel des Geistlichen hart, diesmal haben Sie aber nachgeklappt.
Na also, Kinnings, macht weiter, Schmidt, so muss man dreschen. Ich muss nur mal …
Und er rannte wieder in das Wohnhaus, denn es war ihm eingefallen, dass er sich ein Brautpaar auf neun Uhr zu einer pastoralen Vermahnung bestellt hatte, weil die Braut schon zum zweitenmal schwanger ging und die beiden noch nicht die geringsten Anstalten zum Aufgebot gemacht hatten.
Aber er kam zu spät, denn die beiden waren schon in die Studierstube zu seinen Schülern hineingegangen, und als er da an der Tür stehenblieb und auf das eifrige Reden drinnen lauschte, merkte er, dass auch seine Vermahnung schon überflüssig geworden war, denn er hörte den Johannes Gäntschow, diesen elfjährigen Bengel, wütend sagen: Das weiß doch jeder, und das hast du selber im Kruge erzählt, Adi, dass du die Lisbeth nur an der Nase rumführst, und du hast sogar mit Bohrmanns Erwin gewettet, dass du ihr sechs Kinder andrehen willst und sie doch nicht heiratest.
Du, du, machte der Windmüllersohn Adi wütend, du mit deinem Bruder Alwert …
Tut! Tut! Grade mit meinem Bruder, sagte er wütend, aber was du für Schweinereien machst –!
Geht runter, Kinder, sagte der Superintendent milde. Es ist Frühstückszeit. Ja, jetzt, sofort. Ich bin sehr böse mit dir, Hans Gäntschow. Denkst du gar nicht an die Freiin Christiane? Geht jetzt …
Vielleicht hatte Christiane den mageren, geflickten Johannes Gäntschow mit seinen viel zu kurzen Ärmeln, recht flüchtig gewaschen und gar nicht gekämmt, bisher für einen rechten dummen Bauerntöffel gehalten. Aber wie sie nun durch den Pfarrgarten gingen und von den wilden Wasservögeln redeten, die man jetzt im Winter vom Meeresufer her im Schloß Tag und Nacht schreien hörte, war ihr Ton ganz anders. Es war ihr nicht recht klargeworden, was für Schlechtigkeiten der dem Müllersohn eigentlich vorwarf, aber der Ton seiner Empörung war so überzeugend gewesen, dass das alles nicht mit irgendwelchen Schimpfen, wie’s der Inspektor daheim auf dem Hof machte, oder mit Zänkerei zu verwechseln war. Wie der große, fünfundzwanzigjährige Flaps rot und verlegen stammelnd vor dem Jungen gestanden hatte, das war gut gewesen – ein Blick in eine andere Welt war’s gewesen, eine neue Saite war in ihr erklungen. Und sie beschloß, den Vater nicht, wie sie noch vor einer Woche vorgehabt hatte, zu bitten, die nutzlosen Stunden bei dem eilfertigen Marder aufzugeben, sondern erst einmal dazubleiben und sich diesen Jungen, wie sie keinen bisher auf der Welt getroffen, näher anzusehen.
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