Aber noch gab er den Kampf nicht auf. Noch gab er sich nicht zu, dass er sich zuviel vorgenommen hatte. Dies war zu sehr Teil seines Lebens, als dass er es hätte aufgeben können. Er musste sich eben wach halten, bis der Vater nachgesehen hatte, und dann gehen. Aber das hieß, die ganze Nacht wachen, überhaupt nicht schlafen. Und doch führte er es durch. Er gewöhnte sich auch daran, er stahl sich aus dem Tag ein paar Schlafstunden, er wurde ein Nachttier. Und alles war belohnt, und alles war gut, wenn er bei Blanka war. Blanka war nicht mehr Blanka, Blanka war der Weg, aber Blanka war auch das Ziel. Blanka war seine Stellung zu den Menschen. Gab er Blanka auf, gab er sich auf.
Dann fiel der erste Schnee. An ihn hatte er nicht gedacht. Nun waren Spuren da. Jeder konnte ihm nachgehen, jeder konnte Blanka finden. Er wurde eiskalt, als er dies dachte. Nun ist das Ende da, sagte er, aber er glaubte es noch nicht. Ich werde etwas finden, beharrte er. Ich werde auch diesmal etwas finden. Auch diesmal wird es mir glücken.
Der einzige Ausweg, auf den er geriet, war der, Blanka vorläufig im hintersten Keller des Hauses zu verstecken. Dorthin kam so leicht niemand. Es war ein schlechter Ausweg, das wußte er, ein besserer würde ihm später einfallen.
In der Nacht nahm er Blanka am Strick, er führte sie auf den Hof, er führte sie die Treppe hinauf ins Haus, die Treppe hinab in den Keller. Auf dieser Treppe glitt Blanka aus und fiel. Es gab einen ungeheuren Lärm. Mit der Lampe stand der Vater da und fragte: Was in aller Welt machst du hier mit der Kuh? Der Junge starrte ihn totenbleich an. Der Schein der Lampe fiel auf Blankas Stirn. Aber das ist ja Blanka! Das ist ja Blanka! rief der Vater.
Es war eine Katastrophe. Es war ein maßloser Skandal. Niemand glaubte dem Jungen, dass er das Tier »nur so« geliebt hatte. Zuerst begriff er nicht, was sie meinten, was sie alle meinten, von der Mutter bis zum Kantor. Aber sie sorgten schon dafür, dass er begriff. Blanka, seine Blanka und er!
Von da an war ihm alles gleich. Er wurde von der Schule gejagt, am liebsten hätte man die Konfirmation rückgängig gemacht. Und dann war natürlich kein Gedanke daran, dass er je den Hof bekam. Ein Mensch, der sich in so jungen Jahren schon so schwer verging! Man gab ihn auf ein Schiff und schickte ihn auf fremde Meere, dass die Schande nur aus den Augen kam.
Oh, meine Blanka!
In den zwei oder drei Wochen, die Alwert nach der Aufdeckung seines Verbrechens noch auf dem Hof war, schlichen natürlich auch seine Geschwister wortlos um ihn herum, als sei er nicht da. Schande bedeutet stets ein von der Mehrheit gefälltes Urteil, und Kinder gehen eigentlich immer mit der Mehrheit. Auch Johannes Gäntschow machte da keine Ausnahme, auch er sprach nie wieder mit dem Bruder. Manchmal, wenn er nach der Schule pfeifend in die Dachstube kam und sah den Bruder still und bewegungslos am Fenster sitzen, mit dem blassen, langen Gesicht, und den Blick ohne Zwinkern auf der grauen Bretterwand der Feldscheune, die, kaum acht Meter entfernt, jede Aussicht versperrte, – manchmal also, wenn er den Bruder so starr sitzen sah, überkam ihn zwar nicht Mitleid, aber etwas wie ein Gefühl von Verbundenheit. Johannes, der kein Träumer war wie sein Bruder, wußte ganz genau, dass die Großen unrecht hatten, von Alwert zu glauben, was sie glaubten. Dafür kannte er den hochmütigen Einzelgänger viel zu gut. Nein, Johannes hatte sich längst aus seinem praktischen Verstand heraus eine sehr andere Theorie über die beiseite gebrachte Blanka gemacht, und für Schande war da kein Raum.
Wenn er darum aber doch nicht mit Alwert sprach, den Boykott mitmachte, so war es einmal deswegen, weil die Kronprinzen immer von ihren Geschwistern gehaßt werden, dann aber, weil er schon damals alle Verwandtschaft, vom Vater abgesehen, nicht ausstehen konnte. Da saßen sie in diesem viel zu vollen Haus, sie überfüllten es mit ihrem Lärm, ihrem Gezänk, sie fuhrwerkten immer in den Sachen und im Leben der andern herum, sie beschwatzten alles, kommandierten, verhöhnten, neckten bis aufs Blut – Verwandtschaft war Vormundschaft, Fessel, Feindschaft.
Nun hatte wohl gerade Alwert all dies nicht besonders deutlich mitgemacht, und ein einsames Tannengeflecht am Grugenteich mit dem Grugenstuhl (Johannes hatte sich das alles angesehen, wie sich die halbe Insel den Schandplatz ansah) –, für all das konnte niemand mehr Verständnis haben als Johannes. Aber kann man denn verzeihen, wenn man, selber voll Haß gegen die andern, vom Bruder in diesen gleichen Haß einbezogen wird? Nein, nein, der hatte immer spöttisch die Augen eingekniffen, wenn Johannes mal den Versuch gemacht hatte, ihm etwas zu erzählen, er hatte eine so infame Manier gehabt zuzuhören und dabei in seine Bücher zu schielen, »Richtig« zu sagen und überhaupt nicht hingehört zu haben, nein – auch Johannes sprach kein Wort mit Alwert, gab ihm auch bei der Abfahrt nicht die Hand. Wie das keiner tat.
Als Alwert aber erst weg war und es sich so machte mit dem Alten, beim Strohhäckseln auf der Tenne, da sagte der elfjährige Hannes dem Vater sehr genau, dass es alles Schiet sei mit Alwert und seiner Blanka, dass sich der Vater mal wieder habe anmeiern lassen, von der lieben Verwandtschaft und der Mutter … Alwert, der sich dreimal am Tage die Hände wäscht! Was du nur denkst, Vater!!!
Und Hannes grinste verächtlich mit all seinen Sommersprossen, spuckte verächtlich einen Strohhalm aus.
Der Vater ließ das Schwungrad von der Häckselmaschine los, sah seinen Sohn prüfend an und fragte: Und was denkst denn du?
Hat sich ’ne Kuh retten wollen, weil der Hof sein Erbteil ist, sagte Hannes bedeutungsvoll und kniff, ohne es zu wissen, die Augen genau so ein wie sein Bruder.
Retten wollen? fragte der Vater.
Hannes spürte den nahenden Sturm, aber er sagte doch: Es bleibt ja doch nichts, Vater. Es verkommt ja doch alles. Und darum hat er die Blanka beiseite gebracht? Dass wenigstens was bleibt?
Ja, Vater.
Nein, der Junge hatte keine Angst. Da stand er mit seinem schmalen, verfrorenen Gesicht und den etwas abstehenden, feuerroten Ohren, ein zehnmal geflickter, zusammengestoppelter Anzug, lange, schwarze, rauhwollige Strümpfe, Holzpantoffeln, elf Jahre – aber Angst hatte er nicht.
Der Vater besann sich auch. Dösbartel, sagte er nur, spuckte aus und griff wieder nach dem Schwungrad. Er drehte es gewaltig. Der Junge hatte zu tun, dass er genug Langstroh ranschaffte. Das Häcksel musste er auch wegkehren. Eine lange Weile war man stille. Nur die Häcksellade machte unermüdlich und scharf: Ssssiete-Ssssiete. Immer der scharfe Schnitt.
Dann musste der Bauer Atem holen. Er stand da, aber Hannes hatte noch mehr auf dem Herzen. Und was soll denn das, Vater, dass du die Blanka dem Fleischer Frehle für sechzig Mark verkauft hast? Sie ist mindestens das Vierfache wert.
Der Vater sagte ernsthaft: Weil sie keiner haben wollte. Frehle musste sie extra nach Berlin schicken, da weiß keiner was von ihr.
Und warum haben wir sie nicht behalten? Im Frühjahr hätte sie zum Bullen kommen können.
Weil … fing der Vater an und brach ab. Nun war sein Gesicht doch sehr rot geworden. Ach, Schiet, sagte er. Bist du hier der Bauer oder ich?
Du, sagte der Junge und kniff wieder spöttisch die Augen ein. Es lag eine ganze Menge in diesem Du, und der Vater verstand das auch sehr gut.
Hitziger sagte er: Was du immer vom Hof dröhnst – vor dir kommt jedenfalls noch der Max.
Bekommt ihn aber auch nicht, sagte Hannes trotzig. Schneide man weiter, Vater.
Stellst du hier an oder ich? schrie der Vater. Ich schneide, wann’s mir paßt.
Gerade darum, sagte der Junge, man müßte schneiden, wann’s das Vieh braucht.
Der Vater war zornrot bis auf die Glatze hinauf, der Junge sah es. Er erinnerte sich eben gerade an das hundertmal unregelmäßig gefütterte Vieh, besonders aber an eine Kiste mit Nägeln, die er, der Junge, Stück für Stück aus alten Brettern zusammengesucht, und die der Alte in seiner Betrunkenheit hingeworfen hatte. An die ganz besonders.
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