Aber Johannes ist bestimmt nicht so, sagte Christiane. Bitte, Papa, laß noch mal anspannen, und ich fahre zu ihm und erkundige mich.
Ich würde es nicht tun, Christa, sagte der Vater. Christa, ich würde es nicht tun. Gerade nicht bei einem Gäntschow. Erkundigen können wir uns auch ohne das. Ich werde einmal den Doktor Westfahl anrufen …
Da musste Christiane denn gestehen, dass sie das schon getan hatte. Graf Fidde sah seine Tochter lange an. Er entdeckte plötzlich ganz neue Seiten an ihr. Ich will und werde dir über deinen Umgang nie Vorschriften machen, Christa, sagte er, aber ich rate zur Vorsicht. Zu äußerster Vorsicht und Zurückhaltung.
In den nächsten Tagen musste Superintendent Marder leider die Beobachtung machen, dass der so angenehm begonnene Selbstunterricht der beiden Kinder schon wieder zu Ende war. Johannes Gäntschow saß blaß, mit langen, schmalen Lippen, übrigens auch mit einer kräftigen Beule auf der Stirn, an seinem Platz und beschäftigte sich ganz entschieden überhaupt nicht mit seinen Büchern. Christiane aber, auf dem schwarzen Wachstuchsofa, las wohl, schrieb auch was, gab aber womöglich noch verdrehtere Antworten als der Junge. Er hätte sich entschließen müssen, sich stundenlang zu seinen Schülern zu setzen, dazu aber hatte er jetzt am Wochenende, wo die Predigt gemacht werden musste, gar keine Zeit.
Was habt ihr nur, Kinder, fragte er, habt ihr euch gezankt?
Ich zanke mich nie, Herr Marder, sagte Christiane sehr von oben herab.
Die Kühe haben sicher noch kein Futter, Herr Superdent, sagte Johannes, die brüllen schon mindestens seit ’ner Stunde.
O Gott, ja! Also, Kinder, nicht wahr, ich bitte euch, einen Augenblick, ich muss mal schnell …
Er huschte hinaus, und die beiden saßen wieder allein. Christiane nahm ihr Buch vor, Johannes sah sie von der Seite an, etwas scheu, und stand dann rasch auf, als er merkte, sie war entschlossen, ihn wieder anzusehen. Er betrachtete ein Bild an der Wand: »Heimkehr des verlorenen Sohnes«, die Hände in den Taschen.
Johannes, sagte eine Stimme hinter ihm.
Er bohrte die Hände tiefer ein.
Hannes, klang es dringlicher.
Er zog die Schultern hoch und fing an zu pfeifen.
Hannes!! Das war schon beinahe ein Befehl.
Er drehte sich um, sah sie kühl an und pfiff melodisch weiter (was sehr schwer war). Dann wandte er sich einem zweiten Bild zu: »Gott gibt Moses die Gesetzestafeln«.
Du hättest ganz gut in unserm Schlitten mitfahren können.
Keine Antwort.
Warum bist du denn rausgesprungen?
Keine Antwort.
Wegen der alten Geschichte vom Pferdeschlachten? Papa hat mir das erzählt. Ich finde es einfach dumm.
So.
Oder weil mein Großvater deinen Großvater beim Wildern erwischt hat?
Schiet!
Wie?!
Schiet! Dein Großvater hat gewildert!
Mein Großpapa? Sie lachte so überlegen, dass er am Platzen war.
Warum hat er denn sein Gewehr hergegeben, die Bangbüx? Ich hätte mein Gewehr nie hergegeben.
Sie wurde auch etwas rot, aber sie bezwang sich. Das konnte sie, wie gesagt, ihr Papa war sehr oft krank und dann launisch.
Du würdest eben nie wildern gehen, sagte diese Evastochter.
Er sah sie wutfunkelnd an. Natürlich würde ich wildern gehn!! Gerade würde ich das.
Nein, nie würdest du etwas Schlechtes tun, sagte sie.
Immer! Immer gerade das Schlechte, schrie er wütend. Heute nachmittag noch gehe ich bei euch wildern. Und wehe, wenn mir einer von euch in den Weg kommt –!
Er machte eine drohende Gebärde. Er sah lächerlich und schrecklich zugleich aus. Sie sah ihn ein bißchen amüsiert an, wie man ein kleines Tier betrachtet, das sich abstrampelt. Also schön, sagte sie. Ich werde Papa sagen, dass ich dir die Erlaubnis zum Jagen auf unserer Flur gegeben habe – kannst du überhaupt schießen?
Die letzte Frage war rein rhetorisch. Sie setzte sich in ihrer Sofaecke zurecht und nahm endgültig ein Buch vor. Er war so erschlagen, dass er mindestens zwanzig Sekunden nichts sagen oder tun konnte. Er starrte sie nur an. Aber sie sah ihn nicht wieder an. Sie las geruhig, nur ihre Backen waren ein wenig gerötet.
Zum Donnerwetter! schrie er plötzlich und rannte zum Fenster. Gerade kam der Superintendent über den Hof ins Haus. Herr Superdent, schrie er aus dem Fenster, ich mach Schluß, ich mach Feierabend, ich geh nach Haus.
Der alte Marder sah erstaunt zu dem Fenster hinauf und machte eine abwehrende Handbewegung. Dann faßte er sich an die Stirn, als habe er nun alles begriffen, und schoß in das Haus. Der Junge aber, der wußte, er musste ihm auf der Treppe begegnen, war mit einem Schwung über die Fensterwand und kletterte wie eine Katze am Spalier hinunter. Er sah nicht zu ihr hinauf, die zu ihm herunterrief. Es war seine zweite Flucht vor ihr binnen einer Woche, und er wußte das ganz gut. Er rannte wie ein Amokläufer über den Hof und verschwand durch die kleine Pforte, die zu Kirche und Friedhof führte.
Er hatte dreiundeinhalb Stunden vor sich, bis der Unterricht offiziell zu Ende war, und es war ein bitterkalter Wintertag. Er dachte einen Augenblick nach, rannte dann hinter dem Dorf herum und schlug den Weg nach Dreege ein. Ihm war eingefallen, dass er im Hafen mal nachsehen könnte, ob da ein Dampfer lag. Am Hafen würde sich die Zeit am besten vertreiben lassen, und er blieb warm. Er war sich gar nicht klar darüber, wie die Sache nun weitergehen sollte, er würde mit seinem Vater, mit dem Superintendenten, mit allen Leuten Krach kriegen, er würde wieder auf die Dorfschule müssen, Doofschule hatte er noch gestern zu Nachbar Lindemanns Jürgen gesagt. Aber vorläufig mussten erst einmal diese dreieinhalb Stunden untergebracht werden. Er war sich vollkommen klar darüber, dass er in seiner Wut einen schönen Unsinn gemacht hatte. Weil man den einen Tag aus dem Schlitten gesprungen war, brauchte man nicht den andern Tag aus einem Fenster zu klettern. Weil Windmüllers Adi dämlich gegrinst hatte, brauchte man nicht mit Christiane Streit anzufangen. Aber so war er – und nun mach mal was dabei!
Als er an Müllers Adi gedacht hatte, hatte er unwillkürlich Schnee zu einem Schneeball aufgesammelt. Er knetete ihn voll Wut so lange, bis es ein richtiger Eisball geworden war, und wäre jetzt Adolf Dittmann in Wurfweite gewesen, hätte er eine Beule zu besehen gehabt.
Aber kein Adi Dittmann kam. Dafür aber hörte er hinter sich den Hufschlag eines Pferdes. Erst schielte er argwöhnisch, vielleicht waren ihm »die Feinde schon auf der Spur«. Dann aber sah er, dass es ein gewöhnlicher Einspänner war. Als er den Fahrer erkannte, war es der Fleischer Frehle aus Dreege, der vor ein paar Wochen die Blanka bekommen hatte. Der Fleischer war schon halb an dem Jungen vorbei, als er einen Blick zur Seite tat. Er parierte das Pferd. Bist du nicht einer von den Gäntschows Jungen? Willst du nach Dreege? Spring auf. Es ist heute frisch.
Der Junge kletterte auf den Karren.
Da, nimm den Pferde-Woilach um. Es pustet heute tüchtig. Der Bodden ist schon ganz zugefroren.
Liegen Dampfer unten?
Nein, keiner, nur der Blücher.
Der Blücher ist doch auch ein Dampfer, ein Raddampfer sogar, widersprach Johannes.
Der Blücher ist doch kein Dampfer, sagte der Fleischer. Der Blücher ist doch ein Malheur.
Und nun lachten sie beide, denn der Blücher war so alt und betagt, dass er für eine Fahrt nach Stralsund, die ein anderer Dampfer in drei Stunden fuhr, neun brauchte. Wenn er überhaupt hinkam.
Bist du nicht der Gäntschow, der beim alten Marder jetzt Unterricht hat? fragte der Fleischer.
Ja, sagte Hannes unwillig, denn jetzt musste ja unbedingt die Frage kommen, warum er denn nicht im Unterricht, sondern auf der Landstraße sei.
Vielleicht aber interessierte sich der Fleischer nicht so sehr für die Zeiteinteilung des jungen Gäntschow. Ist das wahr, fragte er, dass du mit der Gräfin zusammen Schule hast?
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