Mutig ging die Orgel das Zwischenspiel zur fünften Strophe an, klang, psalmodeite und tat einen tiefen, hinsterbenden Seufzer: keine Luft. Der Bälgetreter auch nicht auf dem Posten. Na warte, Jungchen!
Der Superintendent raffte den Talar und kletterte die Treppe zur Kanzel empor. Na wartet, ich will euch umdrehen lehren!
Er trat hinaus vor seine Gemeinde. Sie sahen nicht hin zu ihm, sie merkten sein Kommen gar nicht einmal. Alle Gesichter waren von der Kanzel fortgewendet, nach dem Kirchenchor zu, und weder Wollenzien noch der Kantor waren zu sehen. Jawohl, der Platz an der Orgel war verlassen, mitten im Vorspiel zur fünften Strophe, da doch sechs gesungen werden sollten!
Friedfertigkeit erfüllte nicht des Superintendenten Herz, da er sich einmal, ein zweites Mal räusperte. Er musste sich ein drittes Mal räuspern, ehe alle zu ihm hersahen. In allen Gesichtern lag etwas Verhaltenes, sie sahen ihn so erwartungsvoll an, viele waren rot, andere zuckten, Kinne wackelten, Bärte sträubten sich. Der Geistliche spähte. Er sah nichts. Er verlas das Schriftwort, er merkte, sie hörten ihn gar nicht – worauf warteten sie noch?
Er begann seine Predigt. Sie hörten nicht zu, ja viele Gesichter hatten sich wieder von ihm fortgewendet.
Superintendent Marder war sehr böse. Er war so böse, dass er die Predigt unterbrach und energisch mit einem Finger auf die Kanzelbrüstung pochte. Zögernd kamen die Gesichter zurück zu ihm, jetzt schien auf der Orgelempore ein verhaltenes Gerenne, ein leises Gehusche zu sein.
Der Superintendent wollte neu einsetzen. Da klang von der Orgelempore schrill in höchstem Jagdeifer plattdeutsch eine grelle überkippende Jungenstimme: Ick heff em, Herr Kanter. Kamen Se längs! Ick hol dat Undiert nich …
Und hinter der Orgel hervor jagte polternd die grausige, wilde, verwegene Jagd: Phryne, der weiße Bock, an seinem Stummelschwanz hängend, verzweifelt schreiend, der Junge Bälgetreter. Aus der Chorbank links, wo er sichtlich wie ein Jäger auf Ansitz gesessen hatte, schoß hervor, einen Schirm schwingend, der kleine verwachsene Kantor Bockmann, erregt flüsternd und scheuchend: Wistu!
Und aus der Bank rechts der tüterige Wollenzien: Min leiwe Zickenbuck! Kumm to ol Vadder Wollenzien!
Aber der Bock, über seine Feinde triumphierend, riß sich los, der Junge stürzte, der Kantor floh in Bankdeckung vor den Hörnern, kläglich protestierte Wollenzien: I du Deibelsvieh! Stöten wist du?
Der Bock sprang auf eine Chorbank, auf das breite, geschnitzte Geländer des Chors, hoch thronte er über der Gemeinde, aus der unterdrückte Rufe, Gelächter, Angstkreischen laut wurden. Mit wackelndem Bart, drohenden Hörnern, frechen Augen stand der Bock unerreichbar auf dem Geländer – und sah plötzlich seine Liebe, den Superintendenten, den versteinerten, auf der Kanzel. Phryne schmetterte sein triumphierendes Meck und Mäh, er schien den Zwischenraum zwischen Chor und Kanzel zu messen, näher wollte er seiner Liebe, und der erwachte Superintendent warf mit einem lang nachhallenden Knall die Tür hinter sich zu. Die Kanzel war leer.
Aber ach, diese Wut in der Sakristei, diese hilflose, zitternde Wut! In allen Häusern der Insel, in ihren spätesten Geschlechtern wird man immer noch die Geschichte vom Ziegenbock erzählen, der seinen Superintendenten von der Kanzel vertrieb. Marder hatte eine kräftige, lederhafte Haut. Sie mochten ihn filzig, flusig, sonstwas schelten, aber lächerlich, dies nein. Lächerlich durfte er nicht sein! Er biß die Zähne zusammen, er überwachte selbst den Abtransport des Bockes, er schloß ihn selbst in die Räucherkammer ein, aus der unmöglich zu fliehen war. Er steckte den Schlüssel in die Tasche und begann den Gottesdienst von neuem. Mochte aller Hausfrauen Essen anbrennen, so leicht wollte er es ihnen denn doch nicht machen. Und er betete unerbittlich lange für die bösen Buben, die solche Streiche trieben …
Aber, wieder zu Hause, schickte er sofort zum Viehhändler Frehle nach Dreege und ließ ihn kommen. Sonst schloß er nie ein Handelsgeschäft am Sonntag ab. Nein, auch dies wurde kein Handel: er verschenkte den kostbaren Bock, unter der Bedingung, dass ihn niemand mehr zu Gesicht bekommen dürfte und dass er gleich am nächsten Tage von der Insel verschwinden müßte. Phryne protestierte aus seiner Räucherkammer gegen diese Abmachungen mit kläglichem Gemecker.
Am nächsten Tag, am Montagmorgen, stand der Superintendent Marder halb versteckt hinter dem Ladeschuppen auf dem Dreeger Kai, sah den Blücher ablegen und ächzend, krächzend, Dampf abblasend, pfeifend die Höhe des Dreeger Boddens gewinnen. Auf dem Verdeck war lange ein weißer Fleck zu erblicken, der entschwindende Phryne. Dann verschwamm der weiße Fleck mit dem Schiff, der Dampfer tutete noch einmal und drehte sich um den Finkenhaken.
Erleichtert aufseufzend, machte sich Herr Marder auf den Rückweg. Das Kapitel Phryne war abgeschlossen, und er würde den Leuten schon die Mäuler stopfen. Und während er die Dreeger Chaussee langsam fürbaß mit seinen breiten Schultern entlang schaukelte, wurde er wieder beinahe ganz fröhlich beim Anblick der mit Wintersaat bestellten Äcker. Trotzdem im Januar eine Reihe von Tagen schweren Kahlfrost gebracht hatten, waren Roggen wie Weizen gut durchgekommen. Schön smaragdgrün lagen die Flächen in der klaren Wintersonne unter dem schon nicht mehr ganz blassen Blauhimmel. Um die Zweige der Kirschbäume an der Chaussee lag schon etwas wie eine Vorahnung des Frühlings. Die Spatzen stritten sich vergnügt und eifrig tschilpend um einen Pferdeapfel. Der Geistliche überlegte, wie er am nächsten Sonntag Septuagesimä diese Vorfrühlingsahnung in seinen Predigttext einflechten könnte.
Dann aber, an diesem selben Montagabend, tat er noch etwas Heroisches: er trotzte allem Gerede der Leute und ging in den »Schwedischen Hof«, der der Superintendantur gerade gegenüber auf der andern Seite des Marktplatzes lag. Da waren heute am Montag drei Skattische in Gang, ein Bauern-, ein Kaufleute- und ein Gutsbesitzerskattisch. Da würden sie heute beisammensitzen, die ihn durchhecheln wollten, und gerade darum ging er hin.
Heroisch an diesem Gang war aber, dass Superintendent Marder, der sonst nie in Gasthäuser ging und sonst nie Alkohol trank, fest entschlossen war, an diesem Abend bis zum letzten Mann sitzen zu bleiben und so viel Alkohol zu trinken, wie zu diesem langen Sitzen gehörte. Alkohol haßte er, Alkohol machte ihm angst, vor Alkohol schüttelte er sich – aber das war heute alles gleich.
Da ging er, ein kleiner, rötlicher Kerl, mit lächerlich breitem Rücken, aber zum Trommeln gab er sich nicht her, Kalbfell wurde er nicht. Er würde trinken und nicht betrunken werden.
Mit dem Trinken aber war es bei ihm so bestellt, dass sein Großvater schon gerne getrunken hatte und sein Vater sehr gerne. Er war die nächste Generation, er hatte statt einer Neigung eine Abneigung, aber sein strahlender, junger Bruder, fast gleichaltrig, hatte wieder zu gerne getrunken. Und Marder hatte an diesem Bruder, den er so herzlich wie nie einen andern Menschen wieder geliebt hatte, langsam, langsam allen Verfall durch den Trunk erlebt: den Schmutz, das Verkommen, die Verlogenheit, die Gier. Allmählich hatte der Feind – und was war das für ein schrecklicher, erbarmungsloser Feind – die Strahlenzüge des Bruders gestohlen, aufgeschwemmt und verschwommen war alles in diesem Gesicht untergegangen, was auf eine herrliche Zukunft hingedeutet hatte. Dann war der Zusammenbruch gekommen, die Anstalt, das krampfhafte, irre, schreckliche Flehen und Beschwören um einen einzigen Schnaps. Es war gekommen das Geheiltwerden, das Wieder-in-Freiheit-Leben des Bruders, die heimliche Angst um ihn und die schreckliche Gewißheit, dass er von neuem trank.
Es waren schreckliche Auseinandersetzungen gekommen, Schwüre, die in der Stunde schon, da sie gegeben waren, gebrochen wurden, die von vornherein nicht gehalten werden sollten. Und schließlich jene schreckliche Nacht, da die beiden Studenten auf ihrer Bude in Kampf gerieten, da die Seele des andern schon auf der Flucht, schon von ätzendem Alkohol ganz aufgelöst gewesen war. Wie in dem zerrütteten Trinkergehirn Visionen von Verfolgern, huschenden Tieren auftauchten, wie er zu schreien anfing, zu schreien wie selber ein Tier … Nein …
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