Bis er ein paar Tage danach auslöschte und zusammengefallen auf dem Totenbett lag als ein stiller, ernster Bruder jenes einst so herzlich Geliebten.
Ja, wie Superintendent Marder jetzt durch den Pfarrgarten und über den Marktplatz geht, denkt er natürlich an all diese Dinge nicht. Sie sind so lange her, sind wie versunken in ihm, unter der stets neuen Ernte stets neuer Erlebnisse. Aber die Angst sitzt in ihm …
Natürlich, er könnte Himbeerwasser trinken oder einen Tee und noch einen, aber er weiß doch, wie seine Insulaner sind: wer nicht plattdeutsch spricht und nicht mittrinkt, gehört nicht zu ihnen. Und heute muss er zu ihnen gehören.
Im Flur trifft er gottlob die Wirtin, Frau Reese, und er benutzt die Gelegenheit, ihr möglichst laut und sonor ein paar Worte zu sagen, und sie begrüßt ja auch recht lebhaft den ungewohnten Gast. Richtig, in der Gaststube links wird es plötzlich still. Ganz auffallend still. Und so platzt er wenigstens nicht unangenehm in ein Gespräch über sich hinein, als er eintritt und seinen guten Abend sagt.
Sie sind alle schön vorbereitet, und er muss viele Hände drücken und viele Fragen stellen und beantworten, ehe er sich an einen Tisch beim Ofen setzen kann, auf den Tisch klopfen und rufen darf: Herr Reese, einen Grog!
Es geht wie eine Welle verblüfften Schweigens durch den Raum. Aber das ist nur ein Augenblick, und dann haben sie alle, alle kapiert und reden doppelt laut: Kiekeda, der Herr Superintendent will sich wohl anbiedern. Er denkt, er hat es nötig – und laut reden sie von allen, allen andern Dingen.
Stark oder schwach? fragt der Wirt.
Stark, sagt der Superintendent und langt sich eine Zeitung.
Der Grog riecht gemein nach Fusel. Mit Widerstreben nur tut der Geistliche in den übelriechenden Trank den schönen, klaren, weißen Zucker. Er rührt gedankenvoll, lange, er sieht dabei gedankenvoll durch den Raum. Er sitzt schön in der Mitte. Sie können es weder rechts noch links wagen, über ihn zu sprechen. Natürlich denken die, er wird bald wieder abrücken. Aber da sollen sie sich geirrt haben!
Er nimmt den ersten Schluck. Ein schlimmes Getränk, viel schlimmer noch, als er gedacht. Er schüttelt sich, aber er trinkt mutig einen großen Schluck von dem Gebräu. Dann liest er weiter in der Zeitung.
Bis halb elf geht alles glatt. Bis halb elf kann er sich mit Zeitungen helfen. Er hat bis dahin drei Gläser Grog getrunken, und der Trank widersteht ihm nicht mehr so. Es wärmt schön, solches Gebräu. Übrigens hat es auch eine schöne, bernsteinhafte Farbe. Und das Gehirn wird langsam groß und weich. Als der Superintendent die letzte Zeitung aus der Hand legt und sich im Gastzimmer umsieht, ist er ganz andrer Stimmung. Da sitzen sie, jetzt reden sie nur noch, wenn ein Spiel fertig ist, und dann sprechen sie nur von den Fehlern, die die andern gemacht haben – an ihn denken sie gar nicht mehr. Aber er möchte jetzt, dass sie an ihn denken, eine Anspielung machen. Sein ursprünglicher Plan, ihnen nur das Reden unmöglich zu machen, ist ganz vergessen. Jetzt möchte er ihnen Bescheid sagen, diesen selbstherrlichen Bauern, diesen Sittenrichtern im Glashaus. Da sitzt Bauer Behn mit dem noch immer schwarzen, krausen Haar, siebenundfünfzig ist er, und in den letzten zehn Jahren haben drei Mägde in seinem Haus ein Kind bekommen: Vater unbekannt. Aber Marder kann mit dem Finger auf den Vater zeigen, wenn er mag. Er sieht ihn ja an!
Reese, noch einen Grog und stärker.
Der da so laut krakehlt, ist der Kaufmann Stavenhagen, was schreit der? Weiß der Superintendent etwa nicht, dass der fette, rosige Mann einen heimlichen Schnapsausschank hinter seinem Laden hat? Doch, das weiß er, und er weiß noch mehr. Er weiß, dass jetzt zur Stunde vielleicht die Frau dort mit irgendwelchen Bürschlein Liköre trinkt. Er braucht nicht durch die Fenster zu sehen, er kann durch die Wände schauen! Zuhälter der eigenen Frau, wahrhaftig, aber ihm einen Bock vorwerfen, einen lächerlichen Zufall, seinen Ruf zerreden, zerwalken, dass er schließlich mit dem Konsistorium Schwierigkeiten hat, das können die.
Nicht ein Wort von euch –!
Kein schlechter Trank, nein, gewiß nicht, dies tut gut, es stärkt noch die Stärke, es macht angriffslustig. Der betrübt Aussehende da, der Lange, Bleiche, mit der weißen, höckrigen Schnüffelnase, das ist Finnig aus Fabiansruh, Pensionär nennt er sich – oh, du trauriger Wucherer, du. Umherschnüffeln tust du mit deiner Höckernase, im Winter ausschnüffeln, wo kein Geld ist bei den Bauern, und ihnen Geld anbieten, das Geld direkt ins Haus zwängen und drängen und dafür die ganze Ernte des nächsten Jahres kaufen, für – ach, man mag es nicht sagen, welches Schandgeld! Einen Ziegenbock hört ihr meckern auf der ganzen Insel, aber eure eigene Schande hört ihr nicht schreien zum Himmel! Ein guter Satz für die Predigt am nächsten Sonntag, wahrhaftig – worüber wollte er doch predigen? Er erinnert sich nicht mehr genau, aber er würde gut hineinpassen, das würde er.
Der rasche, wieselige Superintendent ist plötzlich ein breiter, schwerer Mann geworden, ein Kämpfer, er steht langsam auf und geht durch das Lokal. Auf den Flur. Wenn er nur wüßte, wo hier die Toiletten sind. Er weiß bloß, dass sich sonst die Gäste auf den Marktplatz stellen; wenn er beim Mondschein nachts ans Fenster der Superintendantur trat, hatte er oft den ganzen kläglichen Aufmarsch vor Augen. Auch eine Schande, wieder eine Schande … Er steht zögernd auf dem Gang, er könnte schnell einmal zu sich hinüber, aber man läuft nicht als Geistlicher nachts aus und ein in dem Gasthaus. Zögernd geht er nach hinten, den schlecht beleuchteten Gang hinunter. An seinem Ende, hinter einer Klapptür, ist ein ganzes Durcheinander von verschiedenen Türen. Alle fast dunkel. Eine Treppe führt da auch nach oben …
Er steht so da. Es ist still im Haus. Nur manchmal hört er den auftrumpfenden Knöchelschlag eines Skatspielers auf dem Holztisch. Er öffnet aufs Geratewohl die nächste Tür und sieht in eine spärlich beleuchtete, düstere, verräucherte Küche. Am Herd sitzt ein junger Mensch mit langen, blonden Haaren. Er hat ein Mädchen auf dem Schoß, dessen Kopf er weit zurückgebogen hat. Er küßt sie, sie küßt ihn. Der Geistliche hört das Geräusch des Küssens. Er will sich lautlos zurückziehen, da hat das Mädchen ihn gesehen, es stößt einen leisen, hellen Schrei aus und fährt hoch. Der Bursche schaut auch nach der Tür, in seinem Gesicht liegt ein Ausdruck aus Wut und Ertapptheit.
Entschuldigen Sie, sagt der Superintendent, wo sind hier die Toiletten?
Über die Treppe, sagt der Hausdiener mürrisch und sieht den Geistlichen böse an.
Der steigt die Treppe hinauf. Plötzlich bleibt er stehen. Plötzlich hört er die Stimmen der Leute in der Gaststube so laut, als säße er zwischen ihnen. Er sucht. Ein matter Lichtschein liegt auf seinem Beinkleid, er bückt sich, da ist eine Lüftungsklappe von der Gaststube nach der Treppe und diese Klappe steht offen. Er hört Stimmengewirr …
Ziegenbock, sagt einer und ein brüllendes Gelächter platzt los.
Er richtet sich steil auf, nein, er will nicht lauschen, das ist unter seiner Würde, und er steigt rasch die letzten Stufen der Treppe empor.
Oben liegt ein langer Gang vor ihm. Türen, Türen. Zehn oder zwölf. Die Gast- und Privatzimmer des »Schwedischen Hofs«. Er geht leise über den grellfarbenen Kokosläufer und blinzelt nach den Türnummern. Hinter einer Tür hört er reden, das ist die Stimme des Wirts, und das ist die weinerliche Stimme der Wirtin. Aber jetzt weint sie wirklich. Reese sagt heftig und böse etwas, und nun ruft die Frau schluchzend: O Gott, ich halte das nicht mehr aus! Was soll denn bloß in aller Welt werden mit mir …
Der Superintendent geht hastig den Gang zu Ende. Seine Stimmung hat sich in den letzten Minuten wieder ganz verändert, nichts mehr von Kampflust, nur Düsternis, Missmut, ja etwas wie Verzweiflung.
Читать дальше