Clarissa war nun so überwältigt, dass ihr zunächst die Worte fehlten und ihr statt Tränen der Hoffnungslosigkeit, nun Tränen der Freude aus den Augen strömten. Als sie sich schließlich etwas gefasst hatte, sagte sie mit heiserer und Tränen erstickter Stimme zu Gaius:
„Vielen Dank, Gaius, ich weiß nicht, wie ich das jemals wieder gut machen kann. Du kennst mich ja kaum und setzt trotzdem so großes Vertrauen in mich. Ich bin Dir zu ewigem Dank verpflichtet, danke, vielen Dank.“ Clarissa kam es wie ein kleines Wunder vor, dass sie hier in den dunklen Kerkern des dunklen Reiches einem Wesen mit einem so großen Herzen begegnet war. Wie war es möglich, dass ihr jemand so selbstlos half? Ja, sie musste es einfach akzeptieren, dass scheinbar nicht alle Wesen im dunklen Reich böse waren. Nachdem sie Gaius noch viele Male von ganzem Herzen gedankt hatte, konnte Clarissa es endlich hinnehmen, dass das Schicksal ihr heute scheinbar gewogen war, und schaute sich den ihr anvertrauten Plan voller Hoffnung an.
Entsprechend der Anleitung zum Öffnen des Geheimgangs, bewegte sie anschließend in der beschrieben Reihenfolge verschiedene Teile der Mauer ihrer Zelle. Tatsächlich öffnete sich daraufhin mit leichten Knirschlauten der Boden zu ihren Füßen und erschien dort eine steile Steintreppe. Sie nahm sich die Fackel aus der Halterung und begann, nachdem sie sich ausgiebig von Gaius verabschiedet und ihm nochmals gedankt hatte, den Abstieg in die Ungewissheit.
Die Treppe war ziemlich steil und führte schnell in den dunklen Untergrund. Clarissa hatte den Eindruck, dass die Luft, je tiefer sie kam, immer kälter und immer feuchter wurde. Außerdem waren die Treppenstufen von der hohen Luftfeuchtigkeit glitschig, so dass sie darauf achten musste, nicht auszurutschen. Sie zählte fast 700 Stufen, ehe sie unten ankam und einem ebenen Gang folgen konnte, der sich dann mehrfach verzweigte. Entsprechend Gaius Plan durfte sie aber erst die siebte Abzweigung nehmen, um nach kurzer Zeit wieder auf Treppenstufen zu stoßen, die aber diesmal nach oben führten. Clarissas Vermutung nach, hatte sie jetzt wahrscheinlich den Fluss unterquert und würde hoffentlich irgendwo am Ufer wieder an die Oberfläche kommen.
Nun musste sie aber erst einmal die Treppen wieder nach oben gehen. Ihre Fackel war fast abgebrannt, so dass sie die letzte Strecke wahrscheinlich in vollkommener Dunkelheit hinter sich bringen musste, was ihr nicht besonders behagte. Wahrhaftig ging die Fackel kurz nach der zweihundertsten Stufe endgültig aus. Da bemerkte sie aber, dass ihr Amulett immer mehr an Leuchtkraft gewann und nach wenigen Augenblicken ausreichend hell leuchtete, um ihr den Weg weisen zu können. Das rettete Clarissa das Leben, denn kurz bevor sie die Oberfläche erreichte, waren die Treppenstufen witterungsbedingt eingestürzt und hatten ein riesiges Loch hinterlassen, das Clarissa nur mit sehr viel Mühe überwinden konnte. Aber das war nicht die einzige Gefahr, die auf sie lauerte, denn nachdem sie die Oberfläche erreicht und mühsam diverse große Steine zur Seite gerollt hatte, um nach draußen zu gelangen, musste sie mit Erschrecken feststellen, dass sie dort schon von Ennova und ihren beiden Handlangerinnen erwartet wurde, die sie voller gehässiger Schadenfreude angrinsten.
Clarissa konnte es einfach nicht glauben, dass ihre ganze Mühe umsonst gewesen sein sollte. Es schien so, als ob sie ihre neugewonnene Freiheit nur sehr kurz genießen konnte, ehe sie wieder gefangen genommen wurde.
16. Kapitel
Johannes Melzer war ganz furchtbar blass und machte den Eindruck, immer schwächer zu werden. Ja, es schien, als ob der Tod im dunkelsten Eck des Raumes schon bereit stand, um ihn an seine Hand zu nehmen und in sein Reich zu führen.
Aber auf einmal hatte Devius die aus reiner Verzweiflung geborene Idee, seinem Vater das Amulett umzulegen, um damit zu versuchen, ihm seine verloren gegangene Lebenskraft wieder zurückzugeben. Voller Hast riss er sich das Amulett vom Hals und legte es seinem Vater sanft und mit Tränen der Hoffnung in den Augen um. Nachdem die Kraft des Amuletts durch direkten Körperkontakt auf ihn einwirken konnte, schien sein Vater tatsächlich innerhalb von wenigen Augenblicken erneut an Lebenskraft zu gewinnen. Seine Wangen wurden wieder rosig. Voller Erleichterung sahen Silvia Adler und Devius wie Johannes Melzer, kaum fünf Minuten nachdem ihm das Amulett von Devius umgelegt wurde, die Augen aufschlug und sie anlächelte.
Noch mehr erfreute es Devius, dass der Blick seines Vaters nun vollkommen klar war und eine ungetrübte Intelligenz ausstrahlte. Der Zauber schien wirklich gewirkt zu haben, so fantastisch das auch war. Dann fing sein Vater an zu sprechen und seine Worte bestätigten nochmals die Hoffnungen seines Sohnes:
„Devius, mein Sohn, es kommt mir so vor, als ob ich gerade aus einem immerwährenden Alptraum erwacht bin. Ich kann mich nur sehr dunkel daran erinnern, wie es vor langer Zeit begann, mir immer schwerer zu fallen, zu denken und mich an gewisse Dinge zu erinnern. Die Zeit danach liegt wie unter einem dichten Nebel verborgen, der kaum von mir zu durchdringen ist. Aber jetzt hat mein Denken wieder eine große Klarheit. Wie hast Du es geschafft, mich aus diesem Gefängnis der geistigen Ohnmacht zu befreien?“
Devius war so voller Freude und Dankbarkeit, dass er über das ganze Gesicht strahlte. Sein Vater wirkte so auf ihn, wie vor vielen Jahren, als die Demenz noch nicht ihre Finger nach ihm ausgestreckt hatte. Voller Entzücken nahm er seinen Vater in seinen Arm und drückte ihn ganz fest an sich. Dann begann er mit leicht zitternder Stimme zu sprechen:
„Ich bin so froh, dass es Dir wieder gut geht, Vater. Wir hatten große Angst, dass Du sterben könntest. Ich hatte einen Zauber beschwört, der Dir Deine geistigen Fähigkeiten zurückgeben sollte. Allerdings war dieser Zauber scheinbar so stark, dass er Dir einen Teil Deiner Lebenskraft entzog und Du daran fast gestorben wärst. Das Amulett, das Du um den Hals trägst, hat Dir diese Lebenskraft wieder zurückgegeben und Dich dadurch gerettet.“
„Dann hat sich die Prophezeiung Deiner Mutter doch noch bewahrheitet. Kurz nachdem Du geboren wurdest, hatte Sie mir vorausgesagt, dass Du mir eines Tages ein würdevolles Leben wiedergeben würdest, dadurch dass Du mich einer großen Bedrohung aussetzt und mein Leben in Gefahr bringst. So ist es nun tatsächlich geschehen. Durch den Zauber, der mir meine geistige Kraft wieder gegeben hat, bin ich fast gestorben. Du hast aber dann das Richtige getan und mir das Amulett umgelegt und damit mein Leben gerettet. Für all das bin ich Dir sehr dankbar, Devius.“ sagte Johannes Melzer mit einem stolzen Lächeln auf den Lippen und küsste seinen Sohn auf die Stirn.
Als Johannes Melzer seine Frau erwähnte, bekam Devius Gesicht plötzlich einen argwöhnischen Ausdruck, denn in seinem ganzen Leben war sein Vater stets Fragen nach seiner Mutter ausgewichen.
„Vater, das war das erste Mal, dass Du meine Mutter erwähnt hast, ohne dass ich Dich auf sie angesprochen habe. Das einzige, was ich bisher von ihr wusste, war, dass sie uns kurz nach meiner Geburt verlassen hat und Du mich daher alleine groß ziehen musstest.“ sagte Devius in einem leicht vorwurfsvollem Ton
„Ja, Devius, ich habe volles Verständnis dafür, dass Du Dich darüber beklagst. Um Dich zu schützen, musste ich Dir lange Zeit die Wahrheit verschweigen und irgendwann, als ich Dir die Wahrheit ohne Gefahr hätte anvertrauen können, konnte ich mich nicht mehr daran erinnern. Jetzt ist aber die Zeit gekommen, Dir alles, was ich darüber weiß, zu erzählen.
Ich war Mitte zwanzig als ich im Rahmen meines Studiums der Architektur in einer Vorlesung einen Kommilitonen kennenlernte, mit dem ich zusammen ein Referat über den gotischen Baustil halten sollte. Dieser Studienkollege kam mir von Beginn an etwas seltsam vor. Er sprach unsere Sprache mit einem seltsamen Dialekt und auch sein Körperbau war nicht wie bei einem normal gewachsenen Menschen.
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