„Aber ich bin noch nicht vollkommen gesättigt. Du willst Dich doch nicht etwa weigern, mir noch ein wenig Deiner wohlschmeckenden Kraft zu geben, um meinen Hunger zu stillen, oder? Schließlich bist Du unerlaubt in mein Reich eingedrungen und daher stehst Du in meiner Schuld. Falls Du Dich allerdings weigern solltest, wäre ich gezwungen, Dich einen armseligen und qualvollen Tod sterben zu lassen. Also gib mir einen letzten Kuss, dann ist Deine Schuld beglichen und ich werde ich Dich gehen lassen.“
„Ich hatte aber eher den Eindruck, dass Du mich meiner gesamten Lebensenergie berauben wolltest. Woher soll ich wissen, dass Dein Angebot ernst gemeint ist und Du mich dann wirklich gehen lässt, statt mich endgültig zu töten?“
„Das kannst Du natürlich nicht wissen, aber warum sollte ich Dich betrügen wollen, Du gefällst mir?“ sagte sie in einem verführerischen Tonfall und mit einem aufreizenden Augenaufschlag, während sie sanft mit ihrer linken Hand über seine Wange strich.
Devius Instinkt riet ihm, der dunklen Göttin nicht zu trauen. Er sollte lieber versuchen zu entkommen. Aber wie wollte er das anstellen? Aus den Augenwinkeln sah er, wie immer mehr Wesen in den Schrein der dunklen Mächte strömten, um sich den zwölf Gestalten vor dem Spiegel anzuschließen. Er konnte also unmöglich durch diese Tür fliehen. Einen anderen Ausgang konnte Devius nicht ausmachen, also würde er sich wohl seinem Schicksal ergeben müssen. Aber irgendetwas hatte er übersehen, das fühlte er ganz deutlich. Es musste für ihn doch noch irgendeine andere Möglichkeit der Rettung geben. Davon war er fest überzeugt.
Schließlich fiel ihm doch noch die naheliegendste Lösung ein. Er musste den Spiegel als Fluchtmöglichkeit nutzen. Aber wäre das nicht auch sehr gefährlich? Der Spiegel sah zwar durchlässig aus, aber würde er ihn wirklich in seine Welt zurücktransportieren können? Devius wusste es nicht, also musste er sich auf sein Glück verlassen und es einfach wagen.
Um die Göttin Eris zu täuschen und sich selbst die Möglichkeit zu geben, zu fliehen, gab er ihr in einem schmeichlerischen Tonfall folgende Antwort:
„Ja, da hast Du recht, wie kann man einer so schönen und mächtigen Göttin wie Dir misstrauen. Ich werde Dich ein letztes Mal küssen, um Deinen Hunger zu stillen, und danach mit Deiner Erlaubnis einen Weg zurück in meine eigene Welt suchen.“ Eris lächelte nun geschmeichelt und sagte mit einer zuckersüßen Stimme:
„Gut, mein kleiner Freund, dann sind wir uns ja einig. Nun komm her und küsse mich.“
Devius machte den Anschein, Eris küssen zu wollen, und näherte sich mit seinen Lippen den ihren, um sich dann plötzlich von ihr abzuwenden, zwischen zwei der Halbwesen hindurch auf den Spiegel zuzurennen und schließlich in ihn hinein zu springen. Eris, die in Erwartung des Kusses ihre Augen geschlossen hatte, nahm es erst einen Augenblick später wahr, dass sie Devius betrogen hatte.
Erst als ihre Untertanen von Devius auf seinem Weg zum Spiegel zur Seite gedrängt wurden und darauf mit lauten Protestschreien reagierten, öffnete sie wieder ihre Augen. Als sie nun bemerkte, dass Devius sein Heil in der Flucht suchte, machte sich große Enttäuschung auf ihrem Gesicht breit und schrie sie Devius voller Zorn nach:
„Du undankbarer Wicht, wie kannst Du es wagen, mich so zu enttäuschen und meine Zuneigung so schamlos zurückzuweisen. Mein göttlicher Zorn wird Dich treffen und vernichten. Ich werde Dir meine Diener hinterher schicken, damit sie Deiner habhaft werden und Dich mir in Ketten gelegt zurückbringen. Wenn Du dann wieder hier bist, werde ich Dich so lange quälen, bis Du sabbernd um Gnade winselst und auf Knien Deinen Tod erflehst, Du Sohn einer räudigen Hündin.“
Devius bekam die Abschiedsworte von Eris nur noch am Rande und wie durch Watte gefiltert mit. Nachdem er in den Spiegel eingedrungen war, hatte er das Gefühl, dass sämtliche Moleküle seines Körpers auseinander gerissen wurden, um dann kurz darauf wieder zusammengesetzt zu werden. Der ganze Ablauf erzeugte einen kurzen, aber doch kaum zu ertragenden Schmerz in seinem gesamten Körper. Dann hatte er es aber geschafft und war auf der anderen Seite des Spiegels angelangt.
Devius schüttelte sich kurz und versuchte sich zu orientieren. Er war in einer Art weiß getünchtem Krankenzimmer mit vier Betten und einem kleinen Fenster gelandet. Der Raum war nicht besonders groß und besaß nur eine Tür, die aus massivem Holz zu bestehen schien. Außerdem hing neben der Tür der alte Spiegel an der Wand, durch den er hierher gelangt war. Das vielstimmige Stöhnen, das er vorhin nur andeutungsweise gehört hatte, war jetzt sehr laut zu hören und ging unter anderem von dem Bett aus, neben dem er zurzeit auf dem Boden lag. Um sich Klarheit darüber zu verschaffen, wo er sich befand, stand Devius nun auf und schaute nach, neben wessen Bett er gelandet war.
Auf einmal schnürte es ihm vor Entsetzen die Kehle zu und ihm wurde ganz hundeelend. In dem Bett lag sein Vater und er war durch irgendjemanden an sein Bett gefesselt worden. Er versuchte ihn zu wecken, aber durch den Zauber, der auf ihn ausgeübt wurde, gelang ihm das nicht. Devius war ganz verzweifelt. Wie konnte er seinen Vater retten? Er wusste es nicht. Devius wusste nur, dass dieser dunkle Zauber noch aktiv war, obwohl er den Energiestrahl nicht mehr wahrnehmen konnte.
Plötzlich hörte Devius ein seltsames energiegeladenes Sirren, das von dem Spiegel ausging, der ihn hierher gebracht hatte. Der Spiegel, der nach seiner Ankunft hier wieder fest geworden war und seitdem wie ein ganz normaler Spiegel aussah, verfärbte sich erneut bläulich und wurde wieder durchlässig. Devius ahnte, was das zu bedeuten hatte. Eris hielt ihr Versprechen und schickte ihm ihre Häscher nach. In ihm machte sich nun eine große Angst breit. Um nicht in Ketten gelegt und einer zornigen Göttin als Opfer gebracht zu werden, musste er schnellstmöglich von hier verschwinden.
Aber ehe es dazu kam, sprangen schon zwei dunkle Wesen aus dem Spiegel und versperrten Devius den Weg. Als dann auch noch vier weitere von Eris Vasallen durch den Spiegel in das Zimmer gelangten und ihn einkreisten, wusste Devius, dass nun sein Ende gekommen war. Devius war zwar einigermaßen gut trainiert, aber gegen sechs mit Kurzschwertern, Krallen und Fangzähnen bewaffnete Halbwesen, hatte er kaum eine Chance.
Eins dieser Wesen war grauenvoller anzusehen als das andere. Im gleichen Moment wusste Devius, dass diese Kreaturen ihn nicht fangen, sondern gleich hier an Ort und Stelle töten und ihrer Göttin seinen Kopf als Trophäe bringen wollten. Ohne Zögern griffen die Halbwesen Devius nach ihrem Eintreffen an und schon während des ersten Angriffs wurde er, trotzdem er sich verbissen mit bloßen Händen dagegen wehrte, schwer an Bein und Brust verletzt. Sein Blutverlust war schon nach kurzer Zeit enorm. Gleichzeitig spürte er in diesem Moment, dass Eris ihm einen nicht unerheblichen Teil seiner Lebenskraft geraubt hatte.
Ihm gelang es zwar noch einen hinterhältigen Angriff eines Wesens, das halb Ratte und halb Mensch war, abzuwehren, aber gleich darauf griff ihn das wildeste der Halbwesen, eine widerwärtigen Mischung aus Schlange und Mensch, an. Dieses Wesen überzog ihn mit einem Stakkato von Bissen und Hieben, bis er schließlich völlig geschwächt und nahezu paralysiert war. Dann mit einem überraschenden Angriff gelang es dieser unmenschlichen Kreatur, ihm mit seinen langen krallen bewehrten Klauen ein Loch in die Brust zu schlagen. Im gleichen Augenblick riss es ihm das Herz bei lebendigem Leib heraus.
Als Devius nun sah, wie das blutige Herz in den Händen des widerwärtigen Geschöpfs seine letzten Schläge machte und schließlich aufhörte zu schlagen, nahm sein Gesicht einen völlig verblüfften Ausdruck an. Dann brachen seine Augen und fiel er tot in sich zusammen.
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