Aber nach und nach fand ich immer mehr Hinweise, dass das wirklich so sein könnte und er vielleicht einen Weg in dieses dunkle Reich gefunden hatte. Unter Umständen war er gar nicht umgekommen, sondern konnte aus was für Gründen auch immer nicht mehr hierher zurückkehren. Natürlich konnte und wollte ich nie ganz die Hoffnung aufgeben, dass er doch eines Tages zu mir zurückkehren würde, aber das geschah leider nie. Um nicht den Verstand zu verlieren, musste ich das irgendwann akzeptieren und mein Leben weiterleben. Also konzentrierte ich mich voll und ganz auf die Erziehung meines Sohnes und, nachdem Du geboren warst, dann auf Dich.
Insgesamt ließ ich diese Dinge für mehr als zwei Jahrzehnte auf sich beruhen. Aber als Dein Vater und Deine Mutter mit dem Auto verunglückten und im Feuer einen schrecklichen Tod starben, war das Thema der Übergänge in andere Welten und eines möglichen Lebens nach dem Tod wieder bei mir präsent. Es ließ mich seither nicht mehr los. Seit dem ich Dich damals voller Trauer in die Arme schloss, verbrachte ich viel Zeit damit, in alten Büchern und anderen Quellen nach irgendwelchen Hinweisen darauf zu suchen.
Meine Suche hat sehr lange gedauert, ehe sie letztendlich doch noch erfolgreich war. Erst kurz vor meinem Schlaganfall fand ich in einem sehr alten verbotenen Buch konkrete Hinweise darauf, dass es diese andere Welt, dieses dunkle Reich wirklich existiert und wie man dorthin gelangen kann.“
Clarissa, die ihrer Großmutter in den letzten Minuten wie gebannt zugehört hatte, traute sich erst jetzt, sich leicht zu räuspern und ihr eine Frage zu stellen:
„Und wie kann man dorthin gelangen, Großmutter?“
„In diesem Buch wurde davon gesprochen, dass der Übergang von unserer Welt in das dunkle Reich nur über einige wenige besondere Spiegel mit Hilfe des Aussprechens einer Abfolge von uralten Worten möglich sei. In dem Moment als ich das las, fiel mir ein, dass nur wenige Tage, nachdem die persönlichen Dinge Deines Großvaters damals bei mir eintrafen, sein Institut mir auch noch den antiken Spiegel überlassen hatte, der seitdem im Flur meines Hauses steht. Da keimte in mir die Hoffnung auf, dass ich meinen geliebten Mann unter Umständen doch noch einmal wiedersehen konnte und vergaß dabei alle Vorsicht.
Genau wie in dem alten verbotenen Buch beschrieben, stellte ich sechs Kerzen rund um den Spiegel auf, platzierte mich direkt davor und sprach die beschriebene Beschwörung aus. Und tatsächlich fing der Spiegel an bläulich zu schimmern. Nach kurzer Zeit war nicht mehr mein Spiegelbild in dem Spiegel zu erkennen, sondern eine andere Gestalt gewann zunehmend an Form und Schärfe. Ich konnte es kaum fassen, aber vor mir, auf der anderen Seite des Spiegels, stand ein Mann, der wie Dein Großvater aussah. Er sah keinen Tag älter aus als damals, kurz bevor er verschwand, und lächelte mich sogar mit dem verschmitzten Lächeln Deines Großvaters an.
Ich war wie verrückt vor Glück und wollte ihn schnellstmöglich in meine Arme schließen, aber als ich versuchte den Spiegel anzufassen, wurde ich wie von einer Art unsichtbarem Kraftfeld davon abgehalten. Ja, ich konnte die Oberfläche des Spiegels weder mit meinen Händen berühren noch sie mit meinen Fingern durchdringen. Die Gestalt auf der anderen Seite hatte das alles sehr genau beobachtet und schien zu wissen, woran es lag. Sie deutete auf mein Amulett und gab mir zu verstehen, dass ich es ablegen und dann nochmals versuchen sollte.
Naiv wie ich zu diesem Zeitpunkt noch war, legte ich das Amulett tatsächlich ab, und berührte dann erneut den Spiegel. Diesmal glückte es mir wirklich, mit meiner Hand auf die andere Seite zu gelangen. Das Wesen mir gegenüber fing nun an vor Freude zu strahlen und nahm meine Hand ganz zärtlich in die seine. Erst war ich überglücklich, Deinen Großvater endlich wieder spüren zu können, dann bemerkte ich aber, dass irgendetwas nicht richtig war. Die Hand dieses Wesens war so kalt wie die Hand eines Leichnams und hatte nichts Lebendiges an sich. Dann fühlte ich mich irgendwie benommen. Mir fiel es auf einmal schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Ja, je länger er meine Hand hielt, desto schwächer wurde ich und auch meine Erinnerungen an mich und mein Leben wurden immer weniger.
Nun wusste ich mit Sicherheit, dass etwas nicht stimmte. Was geschah gerade mit mir? Der Verdacht in mir wurde stärker, dass dort auf der anderen Seite nicht mein geliebter Mann stand, sondern ein fremdes Wesen, dem es gelungen war, mich durch dunkle Zauberei zu täuschen. Ja, und für einen kurzen Augenblick sah ich jetzt auch, was ich schon befürchtet hatte.
Das Gesicht meines geliebten Mannes verwandelte sich für ein paar kurze Momente in das Gesicht einer reißenden dunklen Bestie. Jetzt gab es keine Zweifel mehr. Dieses Wesen auf der Gegenseite des Spiegels war nicht Dein Großvater, sondern eine Art Dämon, der mich meiner Lebensenergie beraubte. Als ich das erkannte, versuchte ich panisch, mich von seinem Griff befreien, aber er hatte das fast im gleichen Augenblick bemerkt, und verstärkte seinen Griff und hielt meine Hand fest umklammert. Nun stand es fest, dass der Dämon mich nicht freiwillig loslassen würde, jedenfalls nicht ehe er mich vollkommen meiner Kräfte beraubt hatte oder ich tot war.
Ich wusste nicht, wie ich mich von ihm befreien konnte, daher begann ich ihn voller Verzweiflung anzuschreien:
„Was willst Du von mir, Du dunkles Geschöpf? Lass mich endlich los und gib mir meine Freiheit zurück.“ Da fing er an hämisch zu grinsen und sagte nun in einem schmeichlerischen Tonfall:
„Erkennst Du mich etwa nicht? Ich bin Dein geliebter Gemahl und möchte, dass wir endlich wieder vereint sind. Komm doch zu mir herüber auf die andere Seite, damit ich Dich in meine Arme schließen kann. Komm und drücke Deinen feuchten Lippen auf meine und küsse mich, denn Du schmeckst so köstlich.“
Angewidert wendete ich nun meinen Blick ab. In diesem Moment wurde mir bewusst, dass, wenn er mir weiterhin so rasant meine Kraft entzog, ich wahrscheinlich bald das Bewusstsein verlieren würde. Dann fiel mir das Amulett ein. Ich hatte es nicht weit weg vom Spiegel auf die kleine Kommode gelegt. Eigentlich müsste es dort durch mich noch zu erreichen sein.
Ich beobachtete mein Gegenüber nun ganz genau und als er sich genüsslich die Lippen leckte und dabei die Augen schloss, nutzte ich diesen Moment, um zu versuchen, nach dem Amulett zu greifen. Dabei musste ich feststellen, dass es doch zu weit weg war. Das einzige was mir gelang, war es leicht mit den Fingerspitzen zu berühren. Dies bekam das fremde Wesen allerdings mit und zog mich voller Gewalt noch näher an sich heran. So schwach wie ich war, konnte ich ihm kaum noch Widerstand entgegenbringen. Doch dann fiel mir siedend heiß ein, dass sich in meiner Hosentasche noch mein Schlüsselbund befand und einer der Schlüssel daran relativ lang war. Ich versuchte nun den Schlüsselbund aus meiner Hosentasche herauszubekommen, was nicht gerade einfach war. Nach mehreren Versuchen gelang er mir schließlich doch noch. Gleich darauf versuchte ich, mit Hilfe des langen Schlüssels das Amulett zu erreichen und zu mir in die Nähe zu ziehen. Immer wieder nutze ich dabei Momente aus, in denen die dunkle Kreatur unaufmerksam war. Schließlich bekam ich das Amulett wirklich in die Finger und konnte es umfassen.
In dieser Sekunde passierten mehrere Dinge. Ich fühlte durch das Amulett eine unglaublich große Menge an Energie in meinen Körper fließen. Gleichzeitig nahm ich wahr, wie das Wesen im Spiegel meine Hand plötzlich losließ, als ob es sich daran wie an einem glühenden Eisen verbrannt hätte. Dann zog ich so schnell es ging meine Hand wieder in meinen Teil der Realität zurück. Das dunkle Geschöpf versuchte nun noch schnell wieder nach meiner Hand zu ergreifen, stieß aber gegen die Spiegeloberfläche, die jetzt erneut fest geworden war. Das Wesen auf der anderen Seite des Spiegels heulte deswegen unvermittelt vor lauter Wut laut auf und konnte vor Überraschung seine Tarnung nicht länger aufrechterhalten.
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