Anduri fragte nach dem Verlauf der Reise, Kerims Gesundheit und seinem sonstigen Befinden und schien im Allgemeinen vorerst noch nicht über geschäftliche Dinge sprechen zu wollen. „Du musst sehr erschöpft sein. Ich habe Sinaf angewiesen, ein Bad für dich vorzubereiten. Ich kann mir denken, dass du dich danach sehnst, den Schmutz der Seereise abwaschen.“
Kerim kam kaum zu Wort, weil seine Verwandten ihn der Reihe nach mit ihren Willkommensgrüßen und danach mit ihren Fragen bestürmten. Am erdrückendsten war die Umarmung seiner Mutter Kenola, der die Trauer über den Abwesenheit ihres Ehemannes während dieses Empfangs nicht anzusehen war. Während der kommenden Trauerfeier würde sich dies aber mit Sicherheit ändern.
Nachdem Kerim das Begrüßungsritual auch mit seiner Tante Mihrema, Anduris Frau, hinter sich gebracht hatte, trat er aus der schattigen Empfangshalle in den etwas helleren Innenhof. Wie bei allen größeren Häuser in Pavat war der Innenhof ein unverzichtbarer baulicher Bestandteil. Im Zusammenspiel mit den offenen Fenstern in der Südseite des Hauses wirkte er wie ein Kamin, der ständig frische Luft hereinsog und für damit für Kühlung sorgte. Im Erdgeschoss war der Hof von schattigen Arkaden umgeben, direkt darüber im ersten Stock befanden sich auf drei Seiten Galerien, über die man die Gemächer erreichen konnte. Auf die mittlere Galerie führte eine breite Treppe, der Kerim nun gegenüberstand.
Vor der Treppe hatten sich seine übrigen weiblichen Verwandten aufgestellt: Ayanla, Khamirs Frau, und Sheza, die Tochter Anduris und Mihremas. Auf das Wiedersehen mit Sheza hatte sich Kerim am meisten gefreut. Mit ihrer lebhaften und aufgeweckten Wesensart hatte sie Kerim seit ihrer Geburt für sich eingenommen. Obwohl er sich hütete, dies jemals laut zu sagen, hatte er Sheza gegenüber Khamir immer als Spielkameradin vorgezogen. Sie waren noch zusammen durch das Haus getobt, als Kerim eigentlich schon zu alt für derart wilde Spiele war. So oft es ging, und das war selten genug, schlichen sie sich zusammen aus dem Haus und erkundeten die Stadt. In den letzten Jahren war ein weiterer Spielgefährte hinzugekommen, der Sheza nie von der Seite wich: ein kleines Kropona-Äffchen, das ihr Anduri zu ihrem 14. Geburtstag geschenkt hatte. Das Haustier musste Sheza bald öfter trösten, weil Kerim nun tatsächlich begann, sich für zu erwachsen für ihre früheren Spiele zu halten. Der Hauptgrund für das allmähliche Lösen ihrer einst so engen Beziehung war jedoch ein anderer: Kerim hatte eine andere Person getroffen, mit der er nun seine meiste Zeit verbrachte. Dennoch waren Sheza und Kerim bis zu seiner Abreise immer noch vertrauter miteinander als mit allen anderen Familienmitgliedern. Sie vertrauten sich ihre Geheimnissee an und mussten nur einen Blick austauschen, um ihre Gedanken zu erraten. Kerim wollte Sheza gerade als Erste umarmen, um herauszufinden, wie sehr sich das Mädchen während seiner Abwesenheit verändert hatte, als sein Blick auf den kugelrunden Bauch seiner Schwägerin Ayanla fiel.
Nach einem Augenblick der Verblüffung wandte er sich zu seinem Bruder um. „Khamir, du Mistkerl...“ Der Angesprochene lachte ihn still an. Die Umstehenden taten es ihm daraufhin gleich. "Du hast es also nicht für nötig gehalten, dieses Thema einmal kurz zu erwähnen?“ frage Kerim mit gespielter Wut.
„Deinen Gesichtsausdruck wollte ich mir einfach nicht entgehen lassen, kleiner Bruder und demnächst Onkel.“
Kerim wandte sich wieder den jungen Frauen zu. „Nun ja, die Überraschung ist dir gelungen. Gut zu wissen, dass du in der Beziehung immer noch der Alte bist.“
Nun konnte sich auch Kerim ein Grinsen nicht mehr verkneifen. „Meinen Glückwunsch, Schwägerin“, sagte er, als er mit ausgebreiteten Armen auf Ayanla zuging.
„Ich danke dir, Kerim“, antwortete sie, „und herzlich willkommen. Wir haben dich wirklich vermisst. Nimm meinem Mann diesen Streich nicht übel“ sagte sie, wobei sie kurz einen nicht ganz ernst gemeinten vorwurfsvollen Blick in Khamirs Richtung warf. „Er ist sehr stolz darauf, jetzt endlich ein Erben zu bekommen.“
Kerim erinnerte sich an das Ereignis, auf das sie anspielte. Es war nicht ihre erste Schwangerschaft. Schon vor seiner Abreise hatte sie ein Kind geboren, das aber kurz nach der Geburt im Kindbett gestorben war. Solche frühen Tode waren zwar im allgemeinen keine Seltenheit, selbst bei der sehr guten ärztlichen Versorgung, die sich die wohlhabenden Familien leisten konnten, doch warf es damals einen Schatten auf die bevorstehende Unternehmung. Es wurde als schlechtes Omen für die Fahrt und die Verhandlungen in Urdland angesehen. Auch wenn dies kaum jemand offen aussprach, musste man kein Gedankenleser sein, um zu wissen, was damals in den Köpfen seiner Verwandten vorging.
Dabei fiel Kerim jetzt ein, dass man das tragische Ereignis im Nachhinein tatsächlich als schlechtes Vorzeichen deuten konnte. Immerhin war das Familienoberhaupt der Helessans fern der Heimat gestorben, in einem Land voller fremder Barbaren. Sollte sich diese Kette von Unglücksfällen vielleicht noch fortsetzen? Hatten sie womöglich alle einen völlig falschen Weg eingeschlagen?
Eine helle Stimme riss ihn aus dem düsteren Gedankengang, der ihn gegen seinen Willen heimgesucht hatte.
„Ich glaube, du hast sie lange genug umarmt, kleiner Mann.“ Shezas Stimme vollbrachte das kleine Wunder, ihn sofort wieder in eine fröhliche Stimmung zu versetzen. Er war froh, dass durch die Umarmung niemand seine plötzlich ernste Miene bemerkt hatte. Fast ein wenig zu heftig löste er sich von Ayanla, um sich dem Mädchen zuzuwenden, das nunmehr schon eine junge Frau war, wie er bemerkte.
„Aber, aber, Sheza“, erwiderte er, als er ihr lächelnd gegenüberstand, „mit mir bist Du immer noch nicht auf Augenhöhe, obwohl du aufgeholt hast.“
Tatsächlich war Sheza während der zwei Jahre gewachsen. Zudem hatte ihre Schönheit mit dem Erblühen zur Frau noch zugenommen. Sie trug ihre Haare jetzt etwas länger. Aber noch etwas anderes fiel ihm auf. Ein ernster, oder vielleicht sogar trauriger Gesichtszug stahl sich zwischen ihr Lächeln.
„Ich habe dafür aber noch Zeit“, sagte Sheza, „du siehst aber so aus, als ob Du während der Reise noch geschrumpft wärest.“
Als sich Kerim aus ihrer Umarmung gelöst hatte, fragte er: „Wo ist denn dein Begleiter, der kleine Kneifer?“
„Ach, der ist vor ein paar Monaten gestorben.“ Nun setzte sie einen eindeutig betrübten Gesichtsausdruck auf.
„Das tut mir sehr leid. Vielleicht schenkt dir Onkel Anduri einen anderen?"
„Ach, ich weiß gar nicht, ob ich noch mal ein Haustier haben möchte“, erwiderte Sheza, während sie düster ins Leere starrte.
Kerim wunderte sich. Sie hatte ihren Affen zwar sehr geliebt, doch dass ihr der Verlust noch nach Monaten so nahe gehen würde, hätte er nicht gedacht.
Irgendwann rang sie sich jedoch wieder ein Lächeln ab, und sie scherzten noch ein wenig miteinander, bis sich Kerim wieder seinem Onkel zuwandte. „Du hattest etwas von einem Bad erwähnt, Anduri?“
Sein Onkel lachte. „Ich hoffe, dass es nicht schon kalt ist. Lass Dich nicht aufhalten. Wir erwarten Dich dann wieder zum Abendessen in einer Stunde.“ Dies war das Zeichen für die Familienmitglieder, die Versammlung aufzulösen.
Kerim verbrachte lange Zeit im Bad, das er überaus genoss. Er schaffte es, die düsteren Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen und sich stattdessen der angenehmen Leere des Halbschlafs zu ergeben.
Als er das Bad verließ, begab er sich in den ersten Stock, wo sein Zimmer lag. Es war ein schmaler Raum auf der Nordseite der Galerie in der Nähe des Zimmers seines verstorbenen Vaters.
Als er es betrat, stellte er fest, dass es fast so aussah, wie er es in Erinnerung hatte. Möglicherweise hatte er es etwas unordentlicher verlassen, doch es schien noch alles an seinem Platz zu sein. Die Truhe mit seinem Reisegepäck stand bereits in einer Ecke des Raumes. Also war Taref schon vor ihm eingetroffen. Da er noch etwas Zeit bis zum Abendessen hatte, vertrieb er sie sich damit, die Dinge zu betrachten, die er in seinem Zimmer zurückgelassen hatte. Zufällig fiel ihm ein Lederbeutel mit klackenden, kleinen Gegenständen in die Hände. Es handelte sich dabei um sein altes Sigeca-Spiel. Er schüttete die sechs großen Würfel auf sein Bett, ein jeder mit einem anderen kunstvoll geschnitzten Bild auf jeder seiner sechs Seiten verziert. Als Kerim noch klein war, hatte er das Würfelspiel unter den Habseligkeiten seines Vaters entdeckt. Als dieser bemerkte, wie fasziniert sein Sohn immer wieder die rätselhaften Bilder auf den Würfeln betrachtete, schenkte er ihm das Spiel. Jeden Erwachsenen, der geduldig genug war, fragte Kerim nach den verschiedenen Spielregeln und Wurfmethoden aus, von denen es unendlich viele zu geben schien. Als er mitbekam, dass Sigeca auch zum Wahrsagen benutzt wurde, regte das seine Fantasie noch mehr an. Er konnte nicht sagen, wie oft er mit Sheza zum Würfelspiel zusammengesessen hatte. Diese Gegenstände riefen, wie zuvor die Geräusche und Gerüche des Hafens, viele Erinnerungen in ihm wach.
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