Ob der Jarxri schlief oder nur stumm und wach dalag, war nicht festzustellen. Weder Geräusche noch Bewegungen schienen sich in irgendeiner Weise zu verändern. Die Stille dieses Wesens hatte etwas Unheimliches an sich.
Als der Morgen anbrach, kündigte sich ein mögliche Wetterveränderung an. Es kam etwas Wind auf, und es zeigten sich einige Wolken mehr als in der letzten Zeit. Während sie ihre Reise fortsetzten, schob sich häufiger ein Schatten vor die Sonne, wenn auch stets nur für kurze Zeit. Sie konnten nun die Felswand ständig vor sich sehen. Als es auf die Mittagszeit zuging, wuchs sie allmählich immer mehr in die Höhe, bis man den Kopf in den Nacken legen musste, um den Himmel darüber zu sehen. Sie war nicht glatt, sondern stark zerklüftet, doch so steil, dass es dennoch schwer sein musste, sie zu erklettern.
Sie erreichten eine Stelle, an der eine langgezogene Senke quer zu ihrem Weg verlief und am Fluss endete. Sie ähnelte dem trockenen Bachbett, dem sie bis vor einem Tag gefolgt waren. Als Churon den Verlauf der Senke mit den Augen folgte, erkannte er, dass sie in einem Bogen auf die Felswand zulief. Dort, wo sie auf die Wand traf, verbreiterte sie sich anscheinend etwas. Die Felsen hatten dort auf einem senkrecht von unten zur Oberkante verlaufenden Streifen eine leicht veränderte Farbe angenommen. Dort, wo der Streifen auf die Oberkante traf, war eine breite Einkerbung zu erkennen.
Als wäre der Jarxri Churons Blick gefolgt, sagte er: „Dort, etwas weiter links, stürzte vor langer Zeit einmal der Fluss in einem gewaltigen Wasserfall in die Ebene. Hier vor uns ist noch das alte Flussbett zu sehen. Heute befindet sich der Wasserfall hinter den Felsen, weiter im Osten. Dort stürzt er in ein Tal, das früher einmal ein See war. Der See hatte seinen Abfluss oben auf der Felsebene, und der Fluss kam dann hier als Wasserfall herunter. Du musst wissen, dass wir uns hier an einem Landbruch befinden. Das gesamte Gebiet östlich der Felsen ist höher als die Ebene, in der wir jetzt stehen.“
„Welchen Weg nimmt der Fluss heute?“
„Er verläuft unterirdisch. Er versickert im Tal östlich von uns und tritt dort vorne wieder aus den Felsen aus.“ Der Schlangenmensch deutete mit seinem klauenartigen Finger auf eine Stelle am Fuß der Felsen, die ihrem Blick noch entzogen war. Dann gab er seinem Pferd die Sporen und ließ es vorsichtig die Senke hinab und am anderen Ende wieder hinauf steigen. Churon folgte dichtauf. Er war einigermaßen neugierig, was für ein Ort dort an dem Austritt des unterirdischen Fluss zu finden war. Er rechnete mit einigen überwachsenen Mauerresten, vielleicht auch Gewölben, die in den Fels gehauen waren. Um so enttäuschter war er von dem Anblick, der sich ihnen darbot, als sie den höchsten Punkt des Ufers vor den Felsen erreichten. Von hier aus konnte man den Verlauf des Flusses überblicken von der Stelle, wo er aus einer dunklen Höhlenöffnung hervorströmte bis zu einer Biegung weit im Westen. Vor der Höhle ergoss sich das Wasser rauschend über einige Felsen, bis es wieder einigermaßen ruhig dahinfloss. Links und rechts des Flusslaufes vermochte Churon nichts weiter zu erkennen als flaches Gras- und Buschland. Auch die Felsen sahen völlig natürlich aus. Keine Spur einer Besiedlung war zu erkennen.
Er machte seiner Enttäuschung Luft. „Der Ort, den du suchst, muss von der Erde verschluckt worden sein.“
„Da hast Du gar nicht mal so unrecht. Vor uns liegt tatsächlich die große Totenstadt und Fluchtburg Tjelxan, erbaut vom Volk der Crin Tjeng.“
Churon grübelte darüber, ob er einem schlechten Scherz aufgesessen war, oder ob sein Begleiter den Verstand verloren hatte. „Was...“
„Die Stadt liegt hinter der Felswand, in den Höhlen, die der Fluss geschaffen hat. Du musst wissen, dass dies alles sehr weiches Gestein ist, sehr leicht formbar. Der unterirdische Flusslauf hat die Höhlen im Verlauf vieler Jahrtausende aus dem Fels gewaschen. Wir sehen dort nur einen kleinen Eingang. Meine Vorfahren haben die Höhlen künstlich erweitert und nach ihren Vorstellungen geformt.“
„Vielleicht stimmt ja wirklich, was du sagst“, erwiderte Churon skeptisch. „Aber wie soll man dort hineinkommen? Ich sehe keinen Eingang außer dem, aus dem das Wasser strömt.“
„Oh, vielleicht gibt es tatsächlich irgendwo verborgen einen zweiten Eingang. Aber es wäre sinnlos, danach zu suchen. Hier bei der Öffnung gab es früher einmal einen Weg am Wasser entlang ins innere, über Treppen und Stege, aber dies alles ist natürlich in den vielen Jahren längst verwittert und verfallen. Damals, als die Höhlen ausgebaut wurden, hatte man die Öffnung, in welcher der Fluss auf der anderen Seite versickerte, versiegelt. Auf diese Weise staute sich das Wasser im Tal, das dann zum See wurde, und die Höhlen wurden trockengelegt. So konnten sie dort in Ruhe die Grabkammern und Vorratsräume anlegen. Später öffneten sie das Fluttor wieder, und der Fluss überspülte den unteren Teil der Anlagen.“
„Das Fluttor?“
Der Jarxri sah sich zu Churon um. „Die Handwerkskunst meiner Ahnen war weiter entwickelt, als du es dir je vorstellen könntest. Sie hatten den jenseitigen Eingang nicht einfach verschüttet, sondern eine Vorrichtung erdacht, mit der Sie die Öffnung nicht nur fast vollständig verschließen, sondern auch später wieder öffnen konnten. So weit ich es weiß, nutzten Sie dafür sogar den gewaltigen Druck des Wasser aus.“
„Das ist ja schön und gut. Aber wie kommen wir heute in das Innere?“
Churon musterte die Felswand nachdenklich. Plötzlich zuckte er zusammen, als ein Schrei irgendwo über ihnen, in der Nähe der Felskante ertönte. Es war ein kurzer, aber äußerst unangenehmer Laut, der etwas von dem Krächzen einer Krähe, dem Schrei einer Möwe und einem fremdartigen, nicht genau zu beschreibenden Ton an sich hatte. Als die beiden Reiter in die Richtung des Geräusches sahen, schoss dort von einer Klippe ein dunkler Schatten in die Höhe, der mit raschen Flügelschlägen in den nördlichen Himmel entschwand.
Für einen kurzen Augenblick saßen sie völlig regungslos auf ihren Pferden und starrten der Gestalt nach.
„Was kann das sein?“ fragte Sharezar schließlich. „Für einen Raubvogel sieht es mir zu groß aus.“
„Ein Späher“, antwortete Churon kurz angebunden und fluchte leise vor sich hin.
„Die Raubvögel kreisen schon über uns und warten auf die nächstbeste Gelegenheit, sich ihre Beute zu greifen“. Anduri Helessad sagte dies in seiner gewohnt ruhigen Tonart. „Wir müssen jetzt weise und besonnen handeln, sonst kann uns alles wieder entrissen werden.“
„Es ist eine wirklich beschissene Lage“, sagte Khamir, der sich weitaus weniger beherrscht zeigte. „Es gibt keine richtige Entscheidung, nur die Wahl zwischen Strick und Henkersbeil. Da können wir noch so weise oder besonnen handeln.“ Er lehnte mit dem Rücken an der Wand der Schreibstube und fixierte Kerim und Anduri mit ernstem Blick. „Verweigern wir den Tenarsons die Heirat, haben wir sie zu Gegnern, und noch dazu irgendeine andere Familie, die sich weniger ziert, eine Verbindung mit diesen mächtigen Kaufleuten einzugehen. Nehmen wir das Angebot an, könnte der Vertrag mit den Kjelbings platzen. Und der Patriarch wird sich auch nicht erfreut zeigen, sich zukünftig mit uns Emporkömmlingen abzugeben. Wenn wir es schaffen sollten, Kerim zur Absicherung mit einer Kjelbing-Tochter zu vermählen, kommen wir früher oder später trotzdem zwischen die Fronten einer Familienfehde. Und wir werden dabei als erste zerrieben.“
„Es hilft alles nichts“, sagte Anduri, „Wie die Entscheidung auch ausfällt, wir müssen sie jetzt treffen. Wir haben alle Ausreden aufgebraucht, mit der wir die Antwort noch hinauszögern könnten. Ich denke, es läuft darauf hinaus, jetzt entweder zwei Ehen zu schließen oder gar keine. Beides ist mit schwer abzuschätzenden Gefahren verbunden. Wir müssen auch bedenken, das sich Gerüchte schnell verbreiten könne in dieser Stadt. Den Beweis dafür haben wir ja auf der Feier gesehen.“
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