„Und warum suchst Du diesen Ort?“ fragte Churon, dem es im Grunde egal war, ob sein Gefährte darauf antworten würde oder nicht. Doch dieser war offenbar in einer mitteilsamen Laune. „Nun, zum einen bieten die Höhlen dort einen ganz guten Schutz und geben einen ausgezeichneten Lagerplatz ab. Es gibt auch frisches Wasser. Aber vor allem möchte ich dort hin, weil ich etwas ganz besonderes suche. Ich weiß nicht mit völliger Sicherheit, ob es tatsächlich dort ist, doch wenn dies der Fall sein sollte, bin ich meinem Ziel so nahe wie nie.“
Aus diesen Worten konnte Churon nur den Schluss ziehen, dass es sich dabei um etwas von hohem Wert handeln musste. Wenn Sharezar ihm keine Lüge erzählt hatte (worin Churon keinen Sinn sah), dann könnte ein Schatzhort gemeint sein. Er wartete ab, ob sein Gefährte weiterreden und noch mehr verraten würde.
„Du musst wissen, dass dieses Land nicht immer so unbewohnt war. Heute haben sich im Norden, Westen und Osten die Menschen ausgebreitet. Im Westen siedelt das Inselvolk, im Norden halten noch die letzten Überlebenden von Elnanbia die Stellung, und östlich von uns beginnt bald das Waldland von Peola, wo einige Menschenstämme leben. Wir reisen zurzeit durch einen menschenleeren Korridor dazwischen. Und doch war dieses Land einmal Teil eines großen Reiches, kultiviert und von prächtigen Städten durchsetzt.“
„Das fällt mir schwer zu glauben“, warf Churon ein.
„Und doch ist es so. Man sieht nur nichts mehr davon, weil es schon so unendlich viel Zeit vergangen ist. Lange vor der Ankunft der Menschen herrschte mein Volk hier. Es hatte Kunst, Architektur und Literatur hoch entwickelt. Seine Leistungen auf allen Gebieten der Wissenschaft und der Handwerkskunst würden die Taten der Menschen verblassen lassen.“
„Wenn dies wirklich so ist, wie kann es dann sein, dass nichts mehr davon zu sehen ist?“
Der Schlangenmensch stieß ein Geräusch aus, dass vielleicht so etwas ein Seufzen sein mochte. „Es scheint das Schicksal einer jeden hohen Kultur zu sein, dass sie eines Tages restlos zugrunde gehen muss. Einige meinen, dass es nicht möglich wäre, dass bei soviel Wissen und Größe ein Reich einfach zerfallen würde. Doch das scheint ein Grundgesetz des Lebens zu sein. Jede Kultur erlebt ein Auf und Ab von Blüte und Niedergang. So erging es auch dem Reich von Crin Tjeng. Das Volk, von dem auch ich abstamme, ist wieder in Barbarei zurückgefallen. Es ist nichts übriggeblieben, nicht mal ein schwacher Abglanz früherer Größe.“ Churon meinte nun, so etwas wie Zorn oder Verbitterung in der Stimme des Schlangenmenschen zu hören. „Die Nachkommen leben heute genau wie die unwissenden Menschen in Stämmen, die sich gegenseitig wegen Nichtigkeiten mit Krieg überziehen. Sie haben alles vergessen, alle Kunst und Literatur und politische Größe, die sie einst besaßen. Es kümmert sie auch nicht einmal mehr.“
„Aber dich scheint es noch zu kümmern. Wenn dein Volk angeblich alles vergessen hat, wie kommt es dann, dass du so viel weißt über diese Geschichte?“
Sharezar sah sich zu Churon um. Auch wenn sich das Gesicht des Wesens nicht lesen ließ, schien dessen Stimme zu verraten, dass es erfreut über das Interesse seines Begleiters war und Vergnügen an dem Gespräch gefunden hatte. „Nicht alle Jarxri sind zu unwissenden Barbaren geworden. Es gab vor langer Zeit zwei Reiche der Schlangenmenschen, wie ihr uns nennt. Neben dem Reich Crin Tjeng gab es noch ein anderes weiter im Süden. Obwohl beide zugrunde gingen, hatte das südliche Reich einen Nachfolger, das heutige Terengan am Fluss Jir, das viele der alten Gebräuche und auch einiges an Wissen übernahm. Es gibt dort Bibliotheken, und auch die mündliche Überlieferung wurde lebendig gehalten. Hier im Norden gibt es nichts vergleichbares mehr, mit Ausnahme des Tals der Zauberin. Aber sie gewährt Außenstehenden selten Zutritt zu ihrer Festung und der Bibliothek darin.“
Churon war angesichts der vielen neuen Begriffe etwas verwirrt. Gerade darum wollte er das Gespräch am Leben halten, um seinem Begleiter noch mehr Einzelheiten zu entlocken. Er hatte wohl das Glück, einen Kenner der Geschichte des Landes und seiner Einwohner hier im Süden getroffen zu haben. Dies konnte ihm später von Nutzen sein. „Du sagst also, dass du all dein Wissen über diese Gegend und die Geschichte deines Volkes aus alten Aufzeichnungen oder Erzählungen hast. Das heißt, es muss nicht unbedingt die Wahrheit sein. Es könnten auch bloße Legenden sein. Ich komme selbst aus einem mächtigen Reich, dass so groß ist wie kein anderes auf diesem Kontinent. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendwann dies alles zugrunde gehen und sämtliche Überreste von der Erde verschwinden sollten. Im Übrigen erscheint mir dieses Land hier viel zu wüst und leer für ein ehemaliges Großreich, egal wie viel Zeit seit seinem Untergang schon vergangen ist.“
„Glaub mir, das ach so große Reich, aus dem du stammst, wird eines Tages zerfallen, und im Laufe der Jahrhunderte werden die Mauern geschleift und die Straßen überwuchert sein. Du musst dich in diesem Land nur aufmerksam umsehen. Nach all den Jahrtausenden hat die Wildnis alles zugedeckt, doch gänzlich verschlingen konnte sie es nicht. Von den Mauern der Städte und Burgen künden noch einige Landmarken. Sie scheinen dem Unwissenden nur Launen der Natur zu sein, doch der Verlauf mancher auf den ersten Blick natürlich anmutender Erdwälle und Verwerfungen weist auf die Siedlungen hin, die sich hier einst befanden. Und viele der unscheinbaren kleinen Hügel sind in Wirklichkeit Grabstätten meiner Vorfahren. Wind, Wetter und Pflanzenbewuchs haben die Spuren verwischt. Doch wenn man weiß, wo man suchen muss, kann man Erstaunliches entdecken. So ein Ort ist auch derjenige, den ich dir eben angezeigt habe und der mein Ziel ist.“
Es wurde immer interessanter. Wenn Sharezar die Wahrheit sagte, und es gab keinen stichhaltigen Grund dies anzuzweifeln, war er auf der Suche nach einer Ruine oder vielleicht einer Grabstätte. An solchen Orten ließen sich oft Schätze finden, was auch zu den vorherigen Andeutungen des Schlangenmenschen passte. Allerdings musste Churon nun vorsichtig zu Werke gehen. Jemand, der so stolz von den Errungenschaften seiner Vorfahren redete, konnte unter Umständen unangenehm werden, wenn man sich an den Schätzen dieses Volkes vergriff. Churon hatte bis jetzt noch keinen Anlass gesehen, sich seines Begleiters zu entledigen, zumal er eine so wertvolle Wissensquelle darstellte. Doch mittelfristig müsste er sich nun wohl doch mit der Frage nach dem richtigen Zeitpunkt für das Ende des Zweckbündnisses beschäftigen.
Er beschloss, das Thema erst einmal ruhen zulassen und die weitere Entwicklung abzuwarten. Auch wenn er das Ziel nun schon ungefähr kannte, könnten sich überraschende Schwierigkeiten ergeben, zu deren Überwindung der Jarxri, wie er sich selbst nannte, hilfreich sein konnte. „Wollen wir hoffen, dass uns dieses staubige Flussbett wirklich zu einem Wasserlauf führt. Wir müssten dringend unsere Schläuche auffüllen.“
„Ach ja, in dieser Beziehung seid ihr Menschen ja etwas empfindlich.“ Man konnte meinen, dass Herablassung aus seiner Stimme herauszuhören war. „Keine Sorge, der tanzende Fluss hat stets Wasser geführt. Mir ist jedenfalls nicht bekannt, dass es jemals anders gewesen wäre.“
Als Churon den Blick über die durch Hitzeflirren verzerrte Umgebung schweifen ließ, entdeckte er plötzlich einen dunklen Punkt am nördlichen Himmel hinter ihnen. Er konnte nicht erkennen, ob es nur einen gewöhnlicher Raubvogel war oder etwas anderes. Er hatte auch nicht die Absicht, so lange zu warten, bis er darüber Klarheit hatte. Er sah sich hektisch nach Deckung um. Das nächste Waldstück befand sich östlich von ihnen, wo das Gelände ein wenig hügeliger geworden war. Während er seinem Pferd die Sporen gab, rief er dem Schlangenmenschen zu: „Wir müssen hier raus und Deckung suchen! Schnell!“ Der Jarxri wandte sein Pferd um, wirkte aber eher verwundert als alarmiert. Während Churon sein Pferd schon die Böschung hinauftrieb, fragte der andere: „Warum? Ist uns jemand auf den Fersen?“
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