Grabert betrat die verräucherte Soldatenkantine, in der man die Luft mit einem Messer hätte zerteilen können. Er holte sich ein kühles Bier vom Tresen und setzte sich an das Wagenrad, welches man, mit einer großen Kunststoffplatte abgedeckt, als Tisch benutzte. Hinter der Theke stand der Kantinenwirt. Der wischte immerfort mit einem Tuch über den Tresen. Er bereitete sich schon auf seinen lang ersehnten Feierabend vor.
„Feierabend“, rief er zu Grabert hinüber. „In acht Minuten geht hier das Licht aus. Wenn Sie noch einen trinken wollen, dann holen Sie sich 'ne Dose, der Flipperraum wird nicht abgeschlossen.“
„Nein, ist schon gut.“
Grabert stellte das leere Glas auf den Tresen und bezahlte. „Also dann, schönen Feierabend.“
Der Wirt nickte flüchtig und klapperte mit seinem großen Schlüsselbund beim Abschließen der Hintertür.
Es war immer noch unerträglich warm. Grabert spürte jetzt ein wenig Müdigkeit und beschloss, schlafen zu gehen. Immerhin sollte der nächste Tag weitere Erläuterungen bringen, die für das Unternehmen von Bedeutung sein würden.
Leise öffnete Grabert die Tür. Schon ein kleiner Spalt machte deutlich, dass Haake tief schlafen musste. Er schlummerte wie ein Stein und schnarchte, damit machte er nichts falsch. Wichtig für das Gelingen des Unternehmens war Klarheit, ein absolut ausgeschlafener Kopf.
Das Bett war schlecht, wie sich jetzt erst herausstellte. Insofern hatte Grabert keine gute Nacht.
In zwei verdammten Wochen würde sich dieser Mann aus der Gesellschaft freikaufen. Raus aus jenem gierigen, arroganten Gewerbe, in dem jeder gegen jeden kämpfte und opponierte, um seine Interessen durchzusetzen. Grabert war sich plötzlich gar nicht so klar darüber, wie eingefahren auch er lebte und wie sehr seine Wünsche ihn dazu antrieben, Dinge zu tun, die er nicht hinterfragte, dessen Konsequenzen er ausblendete. Drehte er sich nicht auch wie ein kleines unwissendes Rädchen im großen Getriebe, welches Kapitalismus hieß?
Wer den kompletten sinnlosen geistigen und materiellen Ballast konsumieren wollte – konform mit den Glaubenssätzen des Systems war, wurde integriert. Wer nicht mitmachte, sollte möglichst rasch ausgestoßen oder abgesondert werden.
Bei diesen kritischen Gedanken döste Grabert noch ein wenig und dachte an die nächsten Tage, an die kommenden Wochen, was sie ihm bringen würden. In zwei Wochen sollte seine Brieftasche prall mit Geld gefüllt sein. Er schlief endlich ein – und die Nacht war kurz.
„Hey, wachen Sie auf“, rief der Unteroffizier vom Dienst und klopfte nicht gerade zaghaft von außen gegen die Türfüllung. Haake war ein ausgesprochener Morgenmuffel.
„Was ist denn los? Verdammt! Kann man als Reservist noch nicht mal bis sieben Uhr schlafen?“, murmelte er vor sich hin.
„Ich habe Befehl, Sie um sieben Uhr zu wecken und Ihnen zu sagen, dass Sie beide um acht Uhr im Staabsgebäude, Zimmer 38, erscheinen sollen.“
„Ja, schon gut, wir sind jetzt wach.“
Der UVD entfernte sich wieder, seine Schritte hallten durch den langen Flur.
Grabert drehte sich schlaftrunken auf die Seite und versuchte, seine müden Glieder zu strecken.
„Wer war denn das?“, fragte er und schaute zu Haake hinüber, der sich an seinem Spind zu schaffen machte.
„Ach, das war dieser blöde Kerl von UVD. Die hab ich schon damals nicht ausstehen können – diese Kobolde. Wir sollen um acht Uhr im Stabsgebäude sein, ich schätze, es wird langsam ernst.“
„Ja, hab's mitbekommen, Zimmer 38 oder so. Na ja, was soll's, ich mach mich jetzt auch frisch.“
Der Waschraum war fast leer. Ein paar schlaftrunkene, vermutlich sogar vom Vorabend noch betrunkene Soldaten standen gebückt vor den langen steinernen Waschbecken. Die erinnerten ein wenig an Tröge in einem Stall.
Haake kratzte nervös an seinem Bart herum, welcher der stumpfen Klinge scheinbar nicht gewachsen war.
„Hast Du 'ne vernünftige Klinge für mich, Martin?“
„Eine Klinge, warte mal', Grabert kramte in seiner Kulturtasche herum. „Ja, hier, ich hab noch ein paar.“
Er reichte Haake eine hin.
„Aber schneid Dich nicht, Du scheinst ziemlich in Fahrt sein heute.“
„In Fahrt? Nein, ich bin morgens nicht so gut drauf, wenn ich gewaltsam geweckt werde, und dann noch von so einem Menschen in Uniform. Wenn mich ein hübsches Mädchen geweckt hätte, wärst Du bestimmt allein hier im Waschraum. Ich würde dann noch wie ein zufriedener Kater im Bett liegen und schnurren. Aber nicht allein, versteht sich.“
„So, so“, lachte Grabert herausfordernd, „verschieße Dein Pulver mal nicht schon vor dem Frühstück.“
Wenn man Grabert und Haake beobachtete, vermutete man nicht, dass sie sich erst seit ein paar Tagen kannten. Diese Tatsache konnte für beide nur von Vorteil sein, denn in den nächsten Tagen sollte für sie eine anstrengende Zeit beginnen.
Das Frühstück war sehr reichlich. Es gab Schinken, Wurst, Konfitüre, Eier, mehrere Brotsorten und, was nicht fehlen durfte, reichlich heißer Kaffee und natürlich auch Tee aus glänzenden Metallkannen.
Es war kurz vor acht Uhr. Kellermann oder wer auch immer heute morgen, würde das pünktliche Erscheinen der beiden jungen Männer als eine Selbstverständlichkeit voraussetzen.
Wenige Minuten, nachdem Grabert und Haake das Büro im Stabsgebäude betreten hatten, verließen sie es auch schon wieder. Gemeinsam mit Kellermann und Strohdt gingen sie zu einem am Fuhrpark gelegenen Gebäude.
Kellermann zog ein Schlüsselbund aus seiner Jackentasche und öffnete ein großes stählernes Tor.
„Das ist er“, sagte er und deutete auf den im Innern der Halle stehenden Lkw, der deutlich erkennbar an jeder Seite seiner hellbraunen Plane ein rotes Kreuz aufzeigte.
„Er ist heute Morgen gebracht worden. Ein Mercedes LP 813. Baujahr 78. Frisch von der Inspektion und bis zum Rand voll mit Lebensmitteln beladen. Das heißt, einige Kartons mit warmen Decken und Kleidungsstücken sind auch dabei.“
In der linken hinteren Ecke der Halle war ein Metallverschlag, an dem sich Strohdt zu schaffen machte. Er ging kurz hinein und erschien wenig später mit einem Karton in den Armen.
„Würden Sie bitte anfassen“, er deutete auf den Karton, „zwei sind noch drin, die müssen auch noch mit.“
Haake ging in den Verschlag und holte die anderen beiden Kartons, in denen je sechs Konservendosen verpackt waren.
Kellermann wies Grabert höflich, aber bestimmt an, mit dem Abplanen des Lkws zu beginnen, um an die Kartons heranzukommen, die sozusagen mit den heiklen Konservendosen gespickt werden sollten. Das Abplanen war eine Arbeit, die ein versierter Fernfahrer beispielsweise schnell bewältigen konnte. Grabert und Haake zusammen hatten jedoch Schwierigkeiten. Die Kartons, an die sie heranwollten, befanden sich mitten unter den anderen. Dies war eben der springende Punkt. Wer würde schon auf die Idee kommen, den Wagen total abplanen zu lassen, um irgendeinem dummen oder guten Gefühl Genüge zu leisten? Den Grund für eine solche Idee würde keiner der Planer des Transfers den Grenzposten liefern wollen.
Als die Plane fein säuberlich in der Mitte der Unterkonstruktion lag, tippte Kellermann mit dem Zeigefinger einen Karton an. „Diese Reihe ist es.“
Es war die erste Reihe hinter dem Fahrerhaus. Die Kartons waren nicht besonders groß. In ihnen befand sich Gemüse, eingekochtes Obst, Ananas, Pfirsiche und natürlich auch Wurst. Grabert und Haake nahmen die Reihe komplett heraus. In achtzehn Kartons kam je eine besondere Konservendose. Selbst ein geschultes Auge konnte keinen Unterschied feststellen.
Nachdem die bewusst offengelassenen Verpackungen mit den vorgesehenen Klebestreifen der Herstellerfirma verschlossen waren, wurde die fehlende Reihe ergänzt und mit nicht präparierten Kartons abgedeckt.
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