101 Sonette
Bernhard W. Rahe
Bernhard W. Rahe
Bremen, im April 2021
1 Im Dichterwald
2 An ein altes italienisches Gedicht
3 An den zweifelhaften Staat
4 Für Herrn Schröder
5 An Albert Einstein
6 Sonnenfinsternis
7 Das Jahr 3010
8 Jahrtausendwende
9 An den November zur Jahrtausendwende
10 Jahreswechsel 2005
11 An die anarchistischen Kinder
12 An das mutige Kind
13 Von den ungeborenen Kinderseelen
14 Totes Haus
15 An das Vorhandensein
16 Ami
17 An den Clown
18 An den glücklichen Narren wider Willen
19 Von den lecken Kondomen
20 Ersehnter Abgesang
21 Der Schmachtende
22 Vom Manne mit Liebeskummer
23 An den Schöpfer
24 An den Schnitter
25 Spieler
26 An den Tag
27 Von den tapferen Eisbären
28 Der unbequeme Unbekannte
29 Zweiter Frühling
30 Sommer
31 Herbst
32 Winter
33 Dem zielstrebigen Menschen
34 Ruhm und Anerkennung
35 Von der Fehlbarkeit des Geldes
36 Über die, auch unerwartete, Erektion
37 Die fremde Gattin
38 Vergessener frivoler Brief
39 Die reichen Irren
40 Die geschenkte Liebe
41 Reaktionäre
42 Scheinwelt
43 Sehnsucht
44 Von den verlorenen Soldaten
45 Vergangene Jugend
46 Wirrungen
47 Lavendel-Déjà-vu
48 Von einem tragischen Ende
49 Formine 2000
50 An Schiller und Goethe
51 An Marcel Reich-Ranicki
52 Zerstörter Garten
53 An die Verse, die überdauern
54 Das niedergerissene „Alte Haus“
55 Aufbruch
56 Fortschritt
57 Maschine
58 Boxsport
59 Rodins Denker
60 Ungeduld
61 Vom Land hinter dem Horizont
62 Das Meer bei Hannover
63 Schick uns die Sintflut
64 An die Wohlbeleibten
65 Niedergang eines besonderen Tieres
66 Die gefräßige Frau
67 Sattsein
68 Knechtschaft
69 Schrei der Schwalben
70 Das Schweigen in der Vernetzung
71 Sentimental stimmender Regen
72 Aussteigertraum
73 Treibholz
74 Urlaubsstress
75 Vom wortlosen Schriftsteller
76 Der Zecher
77 Homophile Begegnung
78 Von den Banknoten und den Toten
79 Geister, die wir riefen
80 Unsterblichkeit
81 Vergangene Leidenschaft
82 Die erstrebenswerte Krankheit
83 Von ihm an die Frau
84 Nietzsches Grabrede angesichts Gottes Tod
85 Großstadtnacht
86 Ein Sonett, das die Welt nicht braucht
87.Geburt
88.Kindheit
89.Sturm und Drang
90.Verwirrung
91.Karriere
92.Erfahrung
93.Begegnung
94.Liebe
95.Heirat
96.Familie
97.Seitensprung
98.Erektion
99.Orgasmus
100.Schwangerschaft
101.Meistersonett
Hast bitter und süß gerungen mit Worten,
Gedanken verwehten, tobten kalt und heiß
im Wind, nur der alte Wald ist still, er weiß,
kamst von weit her, suchtest an vielen Orten.
Sinn der Dinge aus Lettern zu gestalten,
es äußert sich im Kampfe in dir allein.
Fühlst dich oft so entsetzlich wortlos und klein,
kannst in den Wäldern grün, dich frei entfalten.
Lass dich bald fall'n, Stämme dich sicher tragen,
ahnst es nicht, du bist geküsst in tiefer Nacht.
Bald fällt weißer weißer Schnee, oh kühle Macht.
Stimmen um dich herum, hörst du mein Klagen?
Sei nicht traurig! Dichten tut zuweilen weh,
Ich steh' dir bei, als Muse Kalliope.
An ein altes italienisches Gedicht
Da feile ich und suche stets nach dem Wort,
verschiebe es, finde den richtigen Ort,
erspüre angestrengt, mit Freude den Reim,
empfinde Lust am Poem und keine Pein.
Es wachsen stetig die lyrischen Zeilen,
Ideen steigen auf, ohne zu weilen,
hier wächst in klassischer Weise ein Gedicht,
erhält Inhalt und Form, ein wenig Gewicht.
Silben, männlich oder weiblich, sind gezählt,
rücken an die rechte Stelle, gut gewählt.
Elf Silben nur zu einer Zeile sich reih'n.
Lange Sätze sich teilen, wieder entzwei'n.
Der Letzte Vers erklärt mit seinem Gehalt
die Kraft des Werkes, des Sonettes Gestalt.
An den zweifelhaften Staat
Ein stabiler Staat zerbricht und veraltet,
von unfähigen Ministern verwaltet.
In der Willkür verbrennen Wählerstimmen,
Parteien wollen Vertrauen gewinnen.
Blutsauger üben tagtäglich den Verrat,
Wähler sind verwirrt vom Reformensalat.
Ihr maßlosen Unternehmen und Banken,
wer weist euch endlich zurück in die Schranken.
Regierung, ein fettes, groteskes Geschwür.
Meineidschwörer, Heuchler und Beschwichtiger,
wo bleibt euer demokratisches Gespür?
Ihr schützt die Mächtigen, die sind wichtiger,
als kleine Leute, angepasste Bürger.
Welch ein Scheißstaat, du Steuerhai und Würger!
Offenes Sonett an Herrn Schröder
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler Schröder,
glauben Sie, die Wähler werden noch blöder?
Sie sollten sich wirklich nicht mehr genieren,
Deutschlands Untergang zu ratifizieren.
Unserer Nation steht der Schaum vor dem Mund,
müde Minister verwalten sich gesund.
Politschergen greifen in Bürgertaschen,
um endlich Macht und Wohlstand zu erhaschen.
Steuersklaven sind die Dummen und Schwachen.
Und wenn ich wähle, vergeht mir das Lachen.
Diebstahl, ein neues Wort für Demokratie?
Ihr seid die Hirten, wir nur das Volk und Vieh.
Minister sind nicht stets loyal und klüger!
Manche Wähler rufen, ihr seid Betrüger!
Sonett an Albert Einstein
Du kamst mit wirren weißen Haaren daher,
auf deinen Schultern drückte die Frage schwer,
lenkt die Sonne das Licht ab, so massereich,
sind E und mc² stets wirklich gleich?
Das Labor, in dem die Welt sich definiert,
war dein Universum, völlig ungeniert
definiertest du einmal, „Gott würfelt nicht!“
Dieser Leitsatz erhielt ein großes Gewicht.
Den hohen Gefilden der Zahlenlehre
nähertest du dich nur mit zäher Ehre.
Du liebtest die Musik und spieltest Geige.
Die Kernwaffe trug dein geistiges Erbe.
Als sie fiel, zerstörte sie, jede Scherbe
deutet noch heute auf Erhalt und Neige.
Sonett von der Sonnenfinsternis
In den Himmel tausend Augäpfel spähen
und noch ist nichts, nur die Sonne zu sehen.
Doch bald, so bekunden die Astronomen,
erscheint am Himmel ein schauriges Omen.
Es soll der Mond im Kampf die Sonn' verschlingen,
zuvor zeugt die Sichel vom Kräfteringen
im Weltall der Mächte, von Schatten und Licht,
schaut die angstvollen Blicke: Gott hält Gericht.
Es nahet das Dunkel, kühler wird die Luft,
die Stadt schimmert bleiern, sie gleicht einer Gruft,
und tausend Gesichter, angstvolle Blicke.
Oh, Welt ohne Licht, mit düst’rem Geschicke,
schaut doch, der Mond hat das Ringen verloren,
Welt im Lichtstrahl, erneut bist du geboren.
In ungefähr eintausend und zehn Jahren
werden Wagen nicht fahren, auch kaum fliegen.
Forscher woll'n die Gravitation besiegen,
Gott wird uns die Erkenntnis nicht ersparen.
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