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Isabelle, das Mädchen aus Portet d’Aspet, ging im neuen Schuljahr ins College nach St. Girons und wohnte im Internat. Es fehlte also ein Kind, um die Mindestzahl von fünf Schülern zu haben, die garantierten, dass die Schule erhalten blieb. Wir waren mit unseren Kindern an der Schule, ebenfalls die Lehrerin mit ihren zwei schulpflichtigen. Langsam wurde sie unruhig. Keine Alice in Sicht, obwohl die Eltern gesagt hatten, dass sie kommen würde! Am Mittag wollte der Inspektor vorbeikommen. Und bei nur vier Kindern bedeutete dieses das Aus!
Die Schule ist eines der grundlegenden Dinge, die ein Dorf lebendig halten. Und ein Gasthaus. Früher war zusätzlich die Kirche gewesen. Doch dahin ging niemand mehr, außer zu Beerdigungen! Die Einwohner waren geteilter Meinung. Die einen schlossen sich dem Bürgermeister an, der sagte, die Schule mache nur Unkosten, vor allem im Winter. Er weigerte sich, den Heizöltank voll zu machen, mit der Begründung, wo er klein war, mussten alle Kinder ein Holzscheit mit in die Schule bringen, sonst saßen sie im Kalten! Aber jetzt war noch nicht einmal der Holzofen mehr da! Und eine Schule nur für die Kinder der Hippies zu unterhalten, von denen die meisten ja nicht mal in der Gemeinde wohnten? Das einzige einheimische Kind des Dorfes wurde von seinen Eltern jeden Morgen nach Argein gefahren, damit es nicht mit den Hippiebälgern in einem Raum sitzen musste. Die Gemeinde weigerte sich außerdem, den Strom zu bezahlen. Oder einen Schultransport zu organisieren. Oder eine Kantine zu machen, oder nur eine Person anzustellen, die die Kinder beim Essen überwachte… Alleine durfte man die Kinder nicht lassen. Also organisierten wir das alles selber.
Wir Eltern bezahlten eine Person stundenweise, die die Kinder in der Mittagspause überwachte. Das war ein chronischer Arbeitsloser, der das schwarz machte, da er sonst weniger Beihilfe bekommen hätte. An einem Abend weinte unsere Sarah, als wir die Kinder abholten. Der Aufseher hatte ihr einen Tritt in den Hintern gegeben, so beim Rumalbern. Das gefiel uns nicht sehr. Sie hatte sich umgedreht und ihm einen zurückgegeben. Das gefiel uns eher, für ein Kind mit sieben Jahren! Doch daraufhin habe er sich gekrümmt und den Arzt kommen lassen. Ich ging rüber, und wollte mit ihm reden. Seine Frau sagte, er sei wegen lauter Schmerzen gerade erst eingeschlafen, und sie wolle ihn jetzt nicht stören. Morgen früh wäre das günstiger! Also brachte ich die Kinder etwas früher zur Schule und ging rüber. Die Frau sagte, dass er noch schliefe und ich solle warten, bis er aufwache. Ich solle mich so lange ins Wohnzimmer setzen. So nach einer Viertelstunde hörte ich ein Auto, hörte leise Türen gehen und Flüstern. Dann kam die Frau mich holen, da er gerade aufgewacht sei. Da lag er im Bett und krümmte sich vor Schmerz, weil unser Kind ihm das Steißbein gebrochen hätte, und das gerade jetzt, wo er nach Bordeaux müsste, zu einem Vorstellungsgespräch für einen Superjob! Und der würde ihm jetzt durch die Lappen gehen! Er würde Klage wegen Körperverletzung einreichen und wolle Schadenersatz für die verpasste Stelle!
Ich glaubte ihm kein einziges Wort. Ich sagte, dass ich alles meinem Rechtsschutz und der Versicherung übergeben werde, von mir sähe er keinen Centime! Ich wollte zur Schule gehen, mein Auto holen und noch mit der Lehrerin den Fall besprechen. Da sah ich seinen Mercedes, der vorher nicht dagestanden hatte, vor seiner Haustür geparkt, die Motorhaube warm. Er hatte, wohl während ich im Wohnzimmer wartete, Isabell im Nachbardorf geholt und zum Bus gefahren. Die Lehrerin war meiner Meinung. „Eigentlich sollten wir Anzeige stellen, wegen seines Fußtrittes! Auf jeden Fall lassen wir den nicht mehr mit den Kindern alleine!“
Unsere Kinder hatten zeitweise einen Aushilfslehrer, den sie gerne mochten, weil er nicht viel verlangte. Oft legte er eine Videokassette ein und überließ die Kinder sich selber. So auch, als es mal an der Klassentür klopfte und er eine Weile zum Plaudern hinausging. Die Kinder schauten sich inzwischen einen von ihm aufgenommenen Disney-Film an. Sie erzählten uns, dass, als der nach einer Weile vorbei war, ein anderer Film lief mit nackigen Frauen und Männern, die umeinander hüpften. Sie kapierten gar nicht, was die machten! Nach einer Weile hatte der Lehrer sich ausgequasselt und kam wieder ins Klassenzimmer. Als er den Film sah, eilte er zum Fernseher und schaltete schnell aus. „Sagt ja nichts von dem, was ihr gesehen habt, euren Eltern!“, schärfte er den Kindern ein, „sonst dürfen wir keine Filme mehr anschauen!“ Natürlich sagten die Kinder der Lehrerin es ihrer Mutter und unsere erzählten es uns. Und er kriegte von ihr gehörig eins auf den Deckel!
Wir saßen also mit der Lehrerin und den Kindern zusammen und warteten auf die Hippies von Rouech. Doch die waren bis Mittag nicht da. Der Inspektor der Akademie kam und zählte die Kinder. Er setzte sich zu uns und wir sprachen über die Probleme der kleinen Schulen auf dem Land. Wir fanden es günstig für die Kinder, eine Schule in der Nähe zu haben. Weniger Schulweg. Eine kleine Schülerzahl, die dem Lehrer erlaubt, auf die Kinder einzugehen. Er hielt dagegen die höheren Kosten pro Kind umgerechnet auf den Lehrer, die geringeren Chancen eines Kindes in einer einklassigen Schule. Doch ich kannte Leute aus den Dörfern, die es bis zum Hochschulprofessor gebracht hatten, oder zum Wissenschaftler! Für uns war das keine Diskriminierung, wenn unsere Kinder in eine Dorfschule gingen!
Nach einer Weile stand der Inspektor auf. „In einer Woche schaue ich wieder vorbei. Ist Alice dann zurück, bleibt die Schule offen. Wenn nicht, wird sie geschlossen und die Kinder müssen nach Orgibet, wo die Schule gerade wieder aufgemacht hat. Dort sind jetzt sechs Kinder! Wenn man sich vorstellt, dass letztes Jahr dort kein einziges war!“ Wir atmeten auf! Sicher würde Alice bis dahin zurücksein! Doch niemand hatte eine Adresse, wo wir die Eltern erreichen konnten. Trotzdem sprachen wir mit den Eltern der Kinder in Orgibet, die wir ja alle kannten, ob nicht welche bereit wären, ihr Kind nach St. Lary zu schicken. Molly, die ein Haus in Ebocal gefunden hatte, hatte ihre in Deutschland lebenden Kinder hergeholt, welche das Gros der Schüler ausmachten. Sie war bis vor kurzem mit einem amerikanischen Piloten verheiratet gewesen, der bei einem Übungsflug abgestürzt war. Daher bekam sie eine Rente, die es ihr ermöglichte, hier gut zu leben, unterstützt noch vom französischen Kindergeld, was bei fünf Kindern ein Batzen Geld ausmachte. Doch da alle befragten Familien in der Gemeinde wohnten, wollte niemand sein Kind in eine andere Schule schicken.
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Am besagten Tag kam der Inspektor wieder. Vier Kinder. Die Schule schloss. Ab Montag mussten unsere Kinder also nach Orgibet. Die Lehrerin bekam einen Posten in Castillon. Drei Tage später kamen Alice und die Eltern zu uns. „Warum habt ihr die Schule nicht offen gehalten?“, gifteten sie. „Wir waren alle da!“, gaben wir zurück, „das ist, weil ihr nicht da wart, dass sie geschlossen hat!“ „Ich glaube, wir sollten doch bald auswandern!“, fing François wieder an, „auf den Inseln sind sie froh über jeden Einwanderer, anders als hier auf dem Kontinent!“ Und sie schwärmten von dem ewigen Sommer auf der Reunion, den Wellen des Pazifik, die Tahiti umspülen, von Noumea, von Guyana…
Für dieses Schuljahr besuchte Alice die Schule in Orgibet. Dann verkauften sie das Haus und waren plötzlich nicht mehr da. Wohin waren sie gezogen?
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