So unspektakulär das vielleicht tönt, in Wahrheit ist es eine sehr schwerwiegende Entscheidung. Insbesondere für jemand, der aus Angst vor Strafe (für allfälliges Fehlverhalten – man weiß ja ohne konkrete Anleitung fürs Leben nicht so recht, wie man damit umgehen soll!) lieber einem Motto wie ‚ich will nicht, aber ich muss‘ folgte. Entsprechend heftig war denn auch die Reaktion meiner Instinkte. Legt man nämlich jahrhundertealte Rollen plötzlich ab, wird das von ihnen nicht gern gesehen. Sie lieben die Routine, den Alltagstrott, Kontinuität – einfach alles, was ihnen ein Gefühl von Sicherheit verschafft.
Dieses trügerische Sicherheitsgefühl kam ihnen bei meiner Entscheidung abhanden, sie waren hochgradig alarmiert.
„Verflixt! Wer weiß, was da alles geschehen könnte? Tu‘ das nicht! Versteck dich! Renn weg!“.
Ihre Befürchtungen waren ansteckend. Drum kam es mir trotz Erleichterung vor, als schwämme ich aufs offene Meer hinaus, unter mir Tonnen von Wasser und wer weiß wie viele Haie. Stress pur! Wie sich Stress über längere Zeit auf den Körper auswirkt, ist bekannt. Meiner reagierte mit Entzündungen an unzugänglicher Stelle, die ebenfalls über einen längeren Zeitraum mit jodhaltigen Wundspülungen behandelt wurden.
Die Überdosis Jod wiederum brachte meine Schilddrüse zum Kollabieren, eine logische und nahe liegende Reaktion. Trotzdem kostete es mich eine Menge Blicke unter den Pulli, über Jahre, um die Ursache zu finden. Die behandelnden Ärzte kamen sogar nie darauf, sie widmeten sich ausschließlich dem entgleisten Organ.
Jedenfalls folgte auf die lange Bank eine lange Krankheitsphase. Möglicherweise gehören lange Bänke und lange Krankheitsphasen zusammen und kommen in der Natur nur paarweise vor. Ich gönne den beiden ihr Glück. Doch Noah hätte sie nicht auf seine Arche lassen sollen, dann wären sie heute ausgestorben. Allerdings wette ich, Wissenschaftler und Forscher hätten sie anhand versteinerter Gene längst wiederbelebt, weil das Leben nicht halb so spannend wäre ohne die beiden.
Die lange Krankheitsphase war jedoch mehr als nur eine unangenehme Sache oder eine Entschuldigung für Unannehmlichkeiten. Sie entpuppte sich als äußerst heilsam. Während ich Ursachenforschung betrieb, fand ich allerlei aufklärende Zusammenhänge rund um Körper, Geist und Seele. Ich erkannte beispielsweise, dass der Umgang mit meinem Körper bisher ebenso sehr zu wünschen übrig ließ wie mein Umgang mit dem Leben. Ich verhielt mich ausgesprochen rüde und rücksichtslos gegenüber meinen Gefühlen und Bedürfnissen.
Wen wundert’s? In meiner Lebenseinstellung war ja auch der Wurm drin. Ich fasste meine Ansicht darüber gern in dem ge-flügelten Wort zusammen, das Leben sei wie eine Hühnerleiter, kurz und beschissen. Was kann man von solch einem Leben schon erwarten? Sicher nicht, dass es Spaß macht.
Offenbar muss man manchmal erst krank werden, damit man richtig gesund werden kann, nicht nur körperlich.
Ein weiterer Schuppenfall enthüllte mir die wahre Natur des Lebens. Ach herrje! Wie hatte ich mich geirrt! Es ist tatsächlich neutral, weder positiv noch negativ. Es ist wie Lehm in meinen Händen, woraus ich – unter Berücksichtigung einiger Regeln und Gesetzmäßigkeiten – mein Dasein entsprechend meiner Vorstellungen und Wünsche gestalten kann. Wenn es auf diese oder jene Weise nicht klappt, klappt es eben auf eine andere. Es geht vor allem darum, nicht aufzugeben und nicht darum, dass man sein Ziel gleich erreicht. Außerdem verändern sich Ziele unterwegs und in scheinbaren Misserfolgen liegt nicht selten der Same für künftige Erfolge. Am meisten Erfahrungen sammelt man sowieso eher auf Umwegen als auf dem direkten Weg.
Was für ein herrliches Gefühl! Hätte ich das früher begriffen, wäre mir wahrscheinlich vieles erspart geblieben … An Ort und Stelle geblieben wären allerdings auch diverse Schuppen auf den Augen, denn, wie schrieb ein unbekannter Sprücheklopfer sinnigerweise? Wenn das Leben uns in den Hintern tritt, tut sich etwas in unseren Köpfen (zustimmendes Kopfnicken meinerseits!). In meinem Kopf tat sich nun einiges und ich konzentrierte mich fortan darauf, mein Leben von Grund auf zu verändern und ohne Masken und Verstellung in den Griff zu kriegen.
„Na also, geht doch!“ kommentierten ‚die da oben‘, holten sich eine weitere Schüssel Popcorn und machten es sich für die nächste Filmrunde bequem. Schnitt!
Geboren werden und andere widrige Umstände
Zurück zum Anfang. Wie hatte eigentlich alles angefangen?
Moment, wie hatte WAS angefangen? Wo bin ich? Wer hat den roten Faden geklaut? Bitte um Rückgabe! Ah … da ist er ja, danke!
Ich weiß nicht, wie ALLES angefangen hat, ob es tatsächlich einen Urknall gab oder ob Wissenschaftler sich diesen nur mangels plausibler Antworten zurechtgeschustert haben. Ob es überhaupt für irgendetwas einen Anfang gibt? Ich erinnere mich nicht! Doch ich erinnere mich, wie dieses Leben begann.
Eine Geburt ist so oder so eine stressige Sache, umso mehr, wenn man dabei stecken bleibt. Kaum war mein Kopf draußen, ging meiner Mutter die Puste aus. Was für ein bizarres Gefühl, in einer Vagina festzustecken! Ich fand das allerdings nicht witzig und reagierte spontan, und zwar mit Todesangst. Auch sie wurde gerade geboren und wählte ebenso spontan mein Genick als Wohnsitz, was aufgrund der Umstände naheliegend war. Genau dort drückte ja der Schuh. Sie, die Todesangst, begleitete mich fortan wie ein treuer Hund überallhin und verließ ihren Lieblingsplatz nur, um mich bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit anzuspringen. Allgegenwärtig beeinflusste und prägte sie mein Verhalten. Doch das war mir bei der Geburt noch nicht bewusst. Es hätte auch keinen Unterschied gemacht, wenn ich es gewusst hätte, ich hätte es trotzdem nicht ändern können. Die Säuglings- und Kinderphase ist ja keine Phase der aktiven Veränderung, sondern eine Phase des Akzeptierens und Hin- und Aushaltens. Während dieser Phase muss alles, was man im Leben so braucht (wie sitzen, stehen, gehen und Schließmuskel kontrollieren, auch das Stapeln von Bauklötzen, Sandburgen bauen und andere kreative Handlungen mit enormer Tragweite fürs Erwachsenenleben), erst wieder mühsam erlernt werden.
Bei genauerer Betrachtung war das Steckenbleiben bei der Geburt jedoch nicht der Beginn der Beziehung zwischen mir und der Todesangst, sondern die Fortsetzung. Jahre später sollte eine Erinnerung auftauchen, die uns Hand in Hand beim Abgang aus dem Vorleben zeigt. Alle Eindrücke und Emotionen wurden dabei sozusagen schockgefroren und bei der jetzigen Geburt aufgetaut und neu installiert.
Als ich an diesem kalten dunkeln Wintertag doch noch geboren wurde — es muss so sein, sonst würde ich wohl kaum hier sitzen und schreiben. Und es muss natürlich ein kalter, dunkler Wintertag sein wegen der Dramatik —, fand ich das ziemlich schräg. Eben noch träumte ich selig in Gottes Wurstkiste, im nächsten Moment wurde ich zusammengepresst, gewürgt und hinaus gequetscht. Und da war ich nun, überwältigt von Helligkeit, Kälte, undefinierbaren Gerüchen, und ziemlich schockiert vom ersten, unverdienten Popoklatscher.
Meine Mutter wurde danach direkt vom Kreißsaal in den OP gerollt. Dem Kinderkriegen sollte umgehend ein Riegel vorgeschoben werden, bevor weitere Unfälle passieren. Diese Art von Unfällen passieren zwar gern nach einem bereits erfolgten Unfall. Sie ziehen einander magisch an, wenn auch wohl kaum gleich nach einer Geburt. Statt in den Arm genommen und getröstet zu werden, wurde ich also abgefertigt und auf der Säug-lingsstation deponiert. Das wirkte schon etwas abweisend auf mich.
Im selben Raum mit mir lagen unzählige Leidensgenossen, gut verpackt in ihren Bettchen. Der Pillenknick hatte sich noch nicht manifestiert, es war die Zeit kurz davor. Einige brüllten ihren Unmut (nicht über den fehlenden Pillenknick, sondern über den frostigen Empfang) laut in die Welt hinaus.
Читать дальше