Eigenartigerweise habe ich trotzdem einen freien Willen. Jedenfalls glaube ich das, denn er spielt mir öfters Streiche und lässt mich schadenfroh in Fettnäpfchen tappen.
Stressig sind aber nicht nur Phasen, wo ich auf dem Kutschbock meines Lebens sitzend scheinbar die Zügel in den Händen halte. So mancher zusätzliche Stress wurde (und wird manchmal noch) durch kleinere und größere Schocks ausgelöst. Dazu gehört auch der Schock bei der Geburt, aber nicht, weil ein Stückchen fehlte, um als Junge durchzugehen. Mich stressen ja nicht allfällige Schocks meiner Eltern, und mir selbst war nun wirklich herzlich egal, was zwischen meinen Beinen hing, stand oder fehlte.
Ich meine den Schock darüber, dass ich mich erinnerte.
Denn da ich mich erinnerte, wusste ich, dass das nicht normal ist. Eigentlich müsste ich jetzt selig schlummern, träumen, versunken in hingebungsvoller Selbstvergessenheit. WAS HATTE ICH NUN WIEDER ANGESTELLT? Brüll! Falls ihr euch wundert, wie ein süßes unschuldiges Neugeborenes auf so etwas kommt, muss ich zum besseren Verständnis vielleicht etwas ausholen.
Unschuldig und neugeboren war nur mein Babykörper. Ich, die dort hinein gewurstelt war wie eine Schmusedecke in eine Pappschachtel, an allen Ecken und Enden darüber hinaus quellend, war ein Musterbeispiel dafür, wie man sich Katastrophen selber bastelt. Von wegen unschuldig! Wenn das jemand weiß, dann doch jemand, der beim Verteilen des Feenstaubs des Vergessens vergessen wurde.
Weil ich so verdammt gut im Basteln von Katastrophen war, musste ich auch entsprechend viel einstecken. Aber genau darum geht es doch. Wie soll man merken, was man tut, wenn alles rund läuft? Es steht ja sogar in der Bibel, dass wir nicht wissen, was wir tun. Wir wissen ja noch nicht einmal, dass wir es nicht wissen. Man muss Philosoph sein, um wenigstens das zu wissen (Wahrscheinlich wissen Philosophen es aber auch nur, weil sie es an der Uni gelernt haben. Ob sie es tatsächlich wissen oder es nur zu wissen glauben, weil sie es studiert haben, kommt allerdings bei diesem Thema aufs selbe heraus).
Man muss es schon erlebt haben, um es wirklich zu verstehen, manchmal immer und immer wieder. Bis die Schuppen eines Tages mit einem „Aha!“ von den Augen fallen und man endlich erkennt, was man treibt, und welche haarigen Konsequenzen das mit sich bringt.
Solche Schuppen sind nicht zu verwechseln mit Kopfschuppen. Obwohl es auch bei Kopfschuppen eine Erkenntnis der Ursache braucht, damit man wenigstens wüsste, welche Ge-genmaßnahmen zu ergreifen wären (auch wenn man sie unterlässt, weil der freie Wille wieder mal tun will, was ER will).
Damit sie kriegt, was sie braucht, muss die Kopfhaut zu harten Maßnahmen greifen, um den freien Willen und seine beste Freundin, die Bequemlichkeit, auszutricksen. Löst sie sich unter heftigem Jucken („Halloho! Wir haben ein Problehem!“) oder wirft auch mal ein paar Haare mehr ab als die hundert pro Tag erlaubten, schickt der erschrockene Kopfbesitzer seinen freien Willen mitsamt Freundin in die Wüste und handelt.
Die Kopfhaut denkt sich: „Warum nicht gleich so? Hättest dir viel Ärger, eine Menge Haarausfall und Kopfjucken und mir sehr viel Unbehagen erspart!“. So einfach könnte es sein.
Mir fallen zwar ständig Schuppen von den Augen (nicht vom Kopf, dort ist alles in Butter). Und ich würde ja auch vieles, das ich wie im Schlaf oder sogar wider besseres Wissen gemacht habe, nicht wiederholen. Nur mache ich eben immer wieder neue Fehler. Ich verfüge schließlich über ein gerüttelt Maß an Fantasie und Intelligenz. DAS wusste ich schon damals, als ich unmittelbar nach der Geburt darüber sinnierte, was wohl schief gelaufen sein könnte, dass meine temporäre Festplatte nicht neu formatiert worden war (Natürlich nicht mit diesen Worten, es gab ja noch keine PCs, jedenfalls nicht für die breite Masse).
Vom Schuppenfall bis zur Veränderung meines Verhaltens ist es meist ein relativ kurzer Weg, obwohl ich ab und zu ins alte Verhalten zurückfalle. Auch das lernte ich mir mit der Zeit zu verzeihen, wie auch all den anderen Mist, den ich mir im Laufe der Zeit eingebrockt habe und wahrscheinlich auch noch einbrocken werde. Denn, wer wäre ich heute ohne solche Erfahrungen? Würde ich keine Fehler machen, wäre ich perfekt – und total unbeliebt. Logisch, wenn irren menschlich ist, muss Perfektionismus das Gegenteil sein. Gäbe es perfekte Menschen (was an sich schon ein Widerspruch ist), würde keiner sie mögen, aber niemand ist gern unbeliebt.
Glücklicherweise gibt es immer etwas zu verbessern und zu heilen. Krisen und Probleme gehen uns nie aus. So können wir uns immer weiterentwickeln. Perfektion bleibt ein Mythos, der uns anspornt – und nicht selten auch sabotiert und demo-tiviert.
Die Lust aufs Opferdasein (der ich noch selig anhing, als ich wie eine zu große Schmusedecke im Babykörper steckte und mich wunderte, was ich ausgefressen haben könnte, weil ich mich an vorher erinnerte), habe ich mittlerweile gottlob und – wie wir gleich lesen werden – dank tatkräftiger Unterstützung überwunden. Das heißt, ich habe diesen Instinkt zumindest unter Kontrolle oder denke es zumindest. Hauptsache, ich lasse von den großen Katastrophen die Finger.
Mittlerweile gehe ich ziemlich professionell mit dem Leben um. Gibt es irgendwo im Alltag einen Stau, der mir Probleme macht, halte ich inne und sage: „Houston, wir haben ein Problem!“. Das ist der Auftakt zur Staulösung. Zugegeben, manchmal dauert es ein Weilchen, bis mir der Stau überhaupt auffällt, ich stehe immer noch ab und zu auf der Leitung. Ist es soweit, Houston hat den Funkspruch erhalten und mit „Roger!“ bestätigt, schaue ich unter meinen Pulli.
Das ist nicht so absurd wie es tönt, handelt es sich hierbei doch um eine symbolische Handlung, so wie die, in den Keller zu gehen und Yoga zu praktizieren, wenn ich etwas begreifen will (Natürlich dient Yoga nicht nur der Innenschau. Ich wäre im hektischen Alltagsgeschehen sonst viel zu hibbelig). Ich steige symbolisch in mein Unterbewusstsein. Der Groove im Keller fördert die Innenschau. Das gerubbelte Fensterglas der Kellertüre lässt zwar Tageslicht herein, aber höchstens einen verschwomme-nen Blick hinaus. So bleibt die Aufmerksamkeit im Inneren.
So ähnlich ist es auch beim Blick unter den Pulli. Ich werfe symbolisch einen Blick hinter die Kulissen, decke Verstecktes auf, konzentriere mich aufs Wesentliche. Und ich kann das überall praktizieren, auch fern vom Keller, und auch wenn ich keinen Pulli trage.
Um die Finger von der Opferrolle und vom Basteln von Katastrophen zu lassen, was ja irgendwie ein und dasselbe ist, be-nötigt man in der Regel Hilfe in Form eines Tritts in den Hintern. Hartnäckige Fälle (wie ich) brauchen manchmal mehrere Tritte, bis man kapituliert, es kapiert und etwas unternimmt.
Mein Tritt kam in Form einer Krankheit. Das heißt, eigentlich wurde ich ‚nur‘ zu einer dringend notwendigen Entscheidung genötigt, oder, um beim Bild zu bleiben, getreten. Die Krankheit war vielleicht eher als Entschuldigung für die Unannehmlichkeiten gedacht, die ich anderen mit dieser Entscheidung, als ich sie dann endlich fällte, bescherte. Immerhin war damit eine Trennung von Bett, Wohnung, Ehe und Lebenswegen verbunden.
Dass so viel daran hing, war einer der Gründe, weshalb ich die Entscheidung mangels Mut auf die lange Bank geschoben hatte, hoffend, dass sie sich eines Tages erübrigen würde.
(Praktischerweise stehen lange Bänke überall zur Verfügung und laden förmlich dazu ein, Dinge auf sie zu schieben und zu verdrängen. Setzen wir selbst uns im Alltag auch eher selten auf Bänke zum Verweilen, dann sollen sich wenigstens unsere Entscheidungen ausruhen dürfen. Wir sind da sehr sozial!) Als ich endlich begriff, dass ich bisher in jeder Beziehung und Hinsicht immer nur Rollen gespielt hatte, leidenschaftlich übertrieben und theatralisch, wurde besagte Entscheidung, nicht länger im falschen Film mitzuspielen, überfällig statt wie erhofft hinfällig. Das Theaterspiel ist auf Dauer einfach zu anstrengend, auch Schauspieler brauchen Pausen. Dumm nur, wenn man sich mit den gespielten Rollen (in meinem Fall ‚Opferrollenspielerin‘, ‚überlastete Karrierefrau auf Stöckelschuhen‘ – ich hasse Stöckelschuhe! – ‚perfekte Hausfrau und Mutter‘, um nur einige zu nennen) total identifiziert und gar nicht weiß, wer man wirklich ist. Was würde übrig bleiben, wenn ich Masken, Stöckelschuhe und Rollen ablege? Es war höchste Zeit, es herauszufinden. Also sagte ich laut und deutlich ja zum Rollenwechsel und nein zum Theaterspiel im falschen Film - und fühlte mich total erleichtert und befreit, aber…
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