»Hast du schon mal von einem Buch gehört, das die Zukunft von Chyrrta in seinem Text birgt. Ein Buch, das gut bewacht wird, und das – «, sie zögerte kurz und hoffte, ihre nächsten Worte würden sie nicht verraten, »von einer Kriegerin berichtet?«
»Von der Existenz eines solchen Buches habe ich in der Tat gehört. Doch ich habe es nie zu Gesicht bekommen.«
»Weißt du, wo man es versteckt hält?«
Der Mann zuckte mit den Schultern und gab sich einem ausgiebigen Hustenanfall hin. Als er das Taschentuch wieder sinken ließ, sagte er: »Man möchte annehmen, es wird in Parailas Palast aufbewahrt. Aber ich hörte auch Gerüchte, dass es an einem Ort aufbewahrt wird, der innerhalb dieser Stadtmauern liegt. Ich mag den Gedanken, dass etwas so Wichtiges in meiner Nähe weilt. Aber ob dem wirklich so ist, kann ich beim besten Willen nicht sagen.«
Kyla begriff, dass der alte Mann tatsächlich viel dafür gegeben hätte, in diesem Punkt selbst Klarheit zu haben. Dass er ihr jedoch nicht weiterhelfen konnte, enttäuschte sie. Andererseits war sie erleichtert, dass Paraila mit ihrer Vermutung, Quyntyr habe seine wertvollen Bücher verkauft, offenbar falsch lag.
»Und du möchtest nicht doch einen Roman mit romantischer Handlung erwerben?«, fragte der Verkäufer.
»Nein. Vielleicht ein Buch über Kriegsführung.«
»Kriegsführung?«, fragte der Mann pikiert. »So ein Buch gibt es nicht. Wenn es so etwas einst gab, so ist es jetzt verboten. Die Herrscherinnen wünschen seit langer Zeit schon keine Literatur dieser Art mehr. Es erstaunt mich, dass du nach so etwas verlangst. Bereits deine Frage nach einem Buch über Kampfkunst und Waffen hat mich erstaunt. Wenn mir so etwas angeboten worden wäre, hätte ich es natürlich unverzüglich dem Palast gemeldet.«
Kyla begriff, dass der Mann wohl die Wahrheit sagte, denn er schien tatsächlich entsetzt darüber zu sein, dass es Literatur geben sollte, die diese Dinge zum Thema hatte. Paraila und ihre Vorgängerinnen hatten ganze Arbeit geleistet, die Chyrrta ihres Reiches von Kämpfen und gewalttätigen Auseinandersetzungen untereinander abzuhalten. Kyla war froh, dass sie sich dem Mann gegenüber nicht als Kriegerin zu erkennen gegeben hatte, denn sie war sich sicher, dass er sie geringschätzen würde, selbst wenn sie das Töten der Feinde im Namen der Herrscherin durchführte.
»Dann kommen wir wohl nicht ins Geschäft. Es sei denn, du möchtest die Landkarte doch noch verkaufen, für die du im Grunde keine Verwendung mehr hast.«
Kaum hatte sie die Worte gesagt, legte der Mann seine Hand flach auf die Karte vor ihm, als wolle er sie schützen. Kyla bemerkte, dass eine Veränderung in ihm vorging. Er senkte die Stimme, als er nun zu ihr sprach.
»Ich mag blind sein, aber ich bin nicht dumm. Die Frage nach dem geheimen Buch, in dem über die Kriegerin der Herrscherin berichtet wird, hat mich aufhorchen lassen. Kein Chyrrta war so dreist, sich jemals danach zu erkundigen, denn jeder weiß, dass es nur diejenige etwas angeht, von der es vornehmlich handelt. Zudem hat noch keine junge Frau jemals nach Büchern über Waffen, Kriegsführung oder Kampftechniken gefragt. Sag mir, bist du Kyla – Kriegerin der grünen Wasser?«
Leugnen schien ihr nun zwecklos. Und der Mann hatte es ohnehin nicht verdient, von ihr belogen zu werden. Also erwiderte Kyla: »Ja, die bin ich.«
Der Mann wurde bleich. Er wollte etwas sagen, aber stattdessen meldete sich der Husten schlimmer als zuvor zurück. Kyla wartete geduldig, bis er sich wieder beruhigt hatte.
»Nun ist es wohl zu spät, Euch mit dem gebührenden Respekt zu behandeln.« Er schien wirklich unglücklich über diesen Umstand zu sein.
»Ich kam nicht her, um Respekt einzufordern. Ich kam nur her, um dir Fragen zu stellen, wie ich es tat. Gibt es vielleicht eine, auf die du nun anders antworten möchtest, nachdem du weißt, wer ich bin?«
Der Verkäufer schüttelte den Kopf. »Ich sagte Euch die Wahrheit, was den von Euch gesuchten Mann angeht. Niemand hat mir solche Bücher angeboten. Und ich sagte nichts als die Wahrheit, als Ihr nach dem Buch fragtet, das man gut verborgen hält.«
»Ich glaube dir«, beschwichtigte Kyla, doch dann ließ sie ihre Stimme schneidend klingen, als sie fragte: »Und was hat es mit der Karte auf sich? Bist du nun bereit, mir über ihr Alter und ihre Herkunft mehr zu erzählen?«
»Um ehrlich zu sein, ich weiß weder das eine, noch das andere.«
Kyla zog verärgert die Augenbrauen zusammen. »Du willst mir weismachen, du wüsstest nicht, woher du sie hast?«
»Doch, doch! Aber ich kann keine Auskunft über den Vorbesitzer oder ihre Geschichte geben. Ich fand sie hier in diesen Räumen, als ich vor etlichen Jahreszeiten hier meinen Laden einrichtete. Ich war damals noch ein junger Mann und voller Tatendrang. Als ich eine Wand einriss, um den Verkaufsraum so groß wie möglich zu gestalten, entdeckte ich hinter einer Holzvertäfelung diese Karte. Zunächst glaubte ich, der Vorbesitzer habe sie versteckt, doch er schwor, nichts von ihrer Existenz gewusst zu haben.
Möglicherweise ist sie also noch viel älter, als man es, ihrem Zustand nach, glauben könnte. Vielleicht stammt sie sogar noch aus der Zeit, bevor die Undurchdringlichen Mauern entstanden. Einiges lässt darauf schließen, denn abgesehen vom offensichtlichen Fehlen der Mauern sind darauf Ortschaften verzeichnet, an die sich längst niemand mehr erinnern kann. Tritam selbst ist darauf etwa nur ein Viertel so groß, wie wir es heute kennen.
Du siehst also, sie ist wertlos, weil man sich heute nicht mehr nach ihr orientieren kann. Aber mein Herz hängt an ihr, denn damals malte ich mir aus, wie es wäre, in einem solchen Chyrrta zu leben. Einem ohne Mauern und mit viel Weideland für Vieh. Mit Seen und Flüssen, die womöglich nicht verunreinigt waren. Den Namen der Ortschaften nach konnte man in diesen Gewässern sogar Tiere fangen, die sich Fische nannten. Sogenannte Fischerdörfer gab es zuhauf. Man stelle sich ein solches Chyrrta einmal vor!
Es gab sogar ein Gewässer, das so riesig war, dass es vier Tritams der heutigen Zeit hätte verschlucken können. Aber all das gibt es schon seit sehr langer Zeit nicht mehr – möglicherweise hat es das alles auch nie gegeben. Vielleicht ist die Karte reine Erfindung. Dann wäre sie jedoch nicht ungefährlicher. Sicher ist es verboten, eine solche Karte zu verkaufen. Aber ich verkaufe sie ja auch nicht. Ich träume nur ... Bitte verwehrt mir das nicht.«
»Das tue ich nicht. Ich werde nicht über dich richten, denn ich sehe kein Vergehen darin, von einer Welt zu träumen, wie sie sein könnte. Jedoch rate ich dir, sie gut zu verstecken. Du magst fast blind sein, doch jeder, der hier herein kommt und dich damit sieht, könnte dich im Palast melden.«
Der Mann schien bislang noch nicht über diese Möglichkeit nachgedacht zu haben und blickte nun verängstigt. Dann hellte sein Gesicht sich jedoch auf.
»Vielleicht war es Schicksal, dass Ihr mich ausgerechnet heute aufgesucht habt. Ich habe die Karte nämlich schon lange nicht mehr hervorgeholt. Bei Tagesanbruch hatte ich jedoch das Gefühl, ich solle es unbedingt tun. Nur deshalb war ich so töricht, sie für Eure Augen offenzulegen. Und möglicherweise sollte es genau so sein. Wenn ich es recht bedenke, möchte ich sie Euch doch überlassen. Mir selbst ist sie ja im Gedächtnis, und ich brauche sie eigentlich nicht mehr.«
»Bist du dir sicher?«, fragte Kyla, die von der Entwicklung des Gesprächs überrascht war. Sie hatte dem Mann nicht drohen wollen, um ihn zur Herausgabe der Karte zu drängen. Aber er schien ihr tatsächlich von der Idee selbst ganz angetan zu sein, sie ihr zu überlassen. Vielleicht hatte er recht damit, dass das Schicksal es so gewollt hatte. Er faltete sie zusammen und griff nach einem Buch, das neben ihm lag. An irgendeiner Stelle schlug er es auf und legte die Karte hinein.
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