Die Sonne war noch nicht aufgegangen, doch Kyla konnte im Schein der zahlreichen Fackeln sehen, dass auf dem Marktplatz bereits rege Betriebsamkeit herrschte. Männer und Frauen bereiteten sich darauf vor, ihre Waren feilzubieten. Das Licht war zu schwach, als dass Kyla in einiger Entfernung Einzelheiten hätte erkennen können, aber sie war sich sicher, dass es alles geben würde, was das Herz begehrte. Ihr Körper hingegen begehrte momentan lediglich mehr Schlaf. Also ging Kyla ins Bett zurück, zog sich die Decke bis zum Kinn und schloss die Augen. Sie hörte den Händler wieder schimpfen, der sie geweckt hatte. Eine gewisse Ähnlichkeit mit Zygals Stimme war eindeutig vorhanden – und es tat ihr weh, das zu hören. Wie sehr sie diesen grobschlächtigen Mann immer noch vermisste, obwohl er und Olha inzwischen bereits seit vielen Jahreszeiten tot waren. Wären sie stolz auf sie, wenn sie sie heute sehen könnten? Immerhin hatten sie alles getan, um sie auf ihre Aufgaben als Kriegerin vorzubereiten. Doch was hatte sie bislang schon wirklich erreicht?
Sie hatte viele Schlachten angeführt und sie erfolgreich geschlagen. Sie verteidigte ihre Herrscherin und das Reich gegen Feinde und Gefahren. Zudem versuchte sie immer, anderen Chyrrta zu helfen, wo es nur ging, aber reichte das? Waren diese Dinge eine Berechtigung, den Stand einer Kriegerin einzunehmen? Noch dazu eine, die am Palast lebte, und der alle dienen mussten, außer der Herrscherin selbst? Kyla drehte sich zur Seite und bettete ihren Kopf bequemer auf dem Kissen. Was nutzten schon diese Gedanken? Die Umstände waren nun einmal so, wie sie waren. Und sie führte zwar ein privilegiertes Leben, doch es konnte auch jederzeit gewaltsam enden. Jeder Kampf, jede auch noch so kleine Auseinandersetzung, zu der sie gerufen wurde, konnte ihren Tod bedeuten. Oftmals gab sie Dorfbewohnern den Rat, Ärger aus dem Weg zu gehen – insbesondere denen, die junge Kinder hatten. Für sie selbst galt dieser Rat jedoch nicht, denn es war ihr Schicksal, sich einzumischen, wann immer Gefahr drohte.
Kyla war gerade wieder eingeschlafen, da schwoll der Lärm draußen erneut an. Es polterte – gefolgt vom Brüllen des Mannes, dessen Stimme Kyla inzwischen zu Genüge kannte. Sie seufzte und gab ihren Plan, noch länger zu schlafen, endgültig auf. Ein Blick aus dem Fenster zeigte ihr, dass der Stand des Kahlköpfigen zusammengebrochen war. Schuld daran war wohl sein Gehilfe, der mit eingezogenem Kopf die Schimpftirade über sich ergehen ließ. Der junge Mann tat Kyla leid. Ihr blieb jedoch keine Zeit, sich darüber länger Gedanken zu machen, denn bereits im nächsten Moment klopfte jemand an ihre Tür.
»Wer ist da?«, rief Kyla. »Ich bin es, T’hana. Yola lässt Euch ausrichten, dass Euer Frühstück bereitsteht. Möchtet Ihr es im Speisesaal einnehmen?«
Kyla seufzte leise, dann rief sie: »Ja, ich komme gleich.« Man hielt offenbar nicht viel von Langschläfern in dieser Stadt. Kyla hätte T’hana lieber geantwortet, dass sie in ihren Räumen frühstücken wollte, aber ganz sicher würde man es ihr übelnehmen, wenn sie nicht die Gasträume nutzte, die eigens für sie hergerichtet worden waren. Während sie ihre Kampfkleidung anlegte, fragte sich Kyla insgeheim, warum sie überhaupt so diplomatisch war. Paraila blieb in solchen Fällen bestimmt nichts anderes übrig, als die Dienste ihrer Gastgeber in Anspruch zu nehmen. Aber sie selbst war keine Herrscherin, die den Regeln der Höflichkeit Genüge tun musste, sondern eine Kriegerin, die die meiste Zeit ihres Lebens mit den Gewalttätigkeiten anderer Chyrrta umzugehen hatte. Wenn sie dem einmal nicht ausgesetzt war, hieß das jedoch nicht, dass sie sich in eine Edeldame verwandeln musste. Ganz im Gegenteil sogar, war es doch nur zu verständlich, dass sie die Chyrrta blieb, die sie nun einmal war. Und diese speiste entweder allein in ihren Räumen des Palastes oder inmitten der unfeinen Männer auf dem Schlachtfeld, indem sie rasch irgendetwas Essbares hinunterschlang.
Sie schmunzelte, als sie sich vorstellte, dass sie wie die Reiter der Herrscherin es in Gasthäusern taten, nun die Füße auf den Essenstisch legen und Wein am frühen Morgen ordern könnte. Aber auch wenn die Vorstellung sie erheiterte, so verzichtete sie doch darauf, als sie nur wenig später in einem lichtdurchfluteten Raum saß, der Platz für viele Gäste bot. Einige der Tische waren besetzt. Kyla versuchte, nicht darauf zu achten, dass sie immer wieder neugierig beäugt wurde. Sie griff zu einem großen Tonkrug und goss sich Wasser in einen Becher. Das Brot, das vor ihr stand, duftete herrlich. Vermutlich kam es gerade aus dem Ofen, denn der kleine Laib war noch ganz warm. Kyla brach ein Stück davon ab und schob es sich in den Mund. Es schmeckte köstlich!
Sie blickte zum Fenster hinaus. Die Sonne war inzwischen über die Berge gestiegen, die Tritam umgaben. Es würde ein heißer Tag werden. Lylha kam an ihren Tisch und brachte Kyla gebratene Tilanifrüchte. »Yola bereitet frischen Rula-Sud vor. Er ist gleich fertig«, berichtete sie mit gepresster Stimme. Kyla fiel auf, dass die junge Frau einen dicken Verband um ihre Hand trug. »Hat sich die Wunde entzündet?«, fragte sie. Lylha schüttelte den Kopf. »Nein, aber bei mir dauert es sehr lange, bis eine Wunde zu bluten aufhört. Es ist ... eine Krankheit, glaube ich.«
»Oh«, machte Kyla, die nicht wusste, was sie dazu sagen sollte. Denn jetzt fiel ihr auf, dass der Verband stellenweise immer noch von frischem Blut befleckt war. Ganz sicher wäre sie inzwischen längst tot, wenn sie eine solche Krankheit ebenfalls hätte, denn ihre Wunden waren für gewöhnlich um einiges größer und tiefer. »Dann solltest du dich ausruhen, anstatt zu arbeiten. Und vielleicht solltest du auch einen Heiler aufsuchen, der die Wunde behandeln kann, damit du bald wieder genesen bist«, schlug Kyla vor.
»Das kann ich nicht. Ich habe zwei kleine Töchter, und mein Mann ... er ist fort.«
Kyla begriff. »Hole mir den Besitzer dieses Gasthauses her!«, befahl sie. Lylha sah sie erstaunt an. Sie lächelte leicht. »Die Besitzerin ist Yola.« Kyla kam sich augenblicklich dumm vor. Warum hatte sie nicht eher daran gedacht, dass die Besitzerin es sich natürlich nicht nehmen lassen würde, sie als Erste willkommen zu heißen und ihre Dienste anzubieten? Sie ließ sich ihre Verwirrung jedoch nicht anmerken, als Yola mit dem Rula-Sud an ihren Tisch kam. Während die Gasthaus-Besitzerin das dunkle Gebräu in einen kleinen Becher füllte, sagte Kyla entschieden: »Du wirst Lylha heute und für die kommenden beiden Sonnenlichter von ihren Pflichten entbinden. Sie wird einen Heiler aufsuchen und bald wieder bei Kräften sein, um ihren Dienst zu verrichten. Die Bezahlung für sie und den Heiler erhältst du von mir, sobald ich abreise. Füge die Summe meiner Rechnung hinzu.«
»Und wer soll dann die anstehenden Arbeiten übernehmen? Lylha war tollpatschig und ist selbst schuld, dass sie sich verletzt hat«, erwiderte Yola aufgebracht.
»Was tut das zur Sache?«, herrschte Kyla sie an. Sofort senkte Yola den Kopf und murmelte: »Nichts ... natürlich.«
»Dann lass sie nach Hause gehen. Es wird genügend Chyrrta in dieser Stadt geben, die ihre Arbeit einstweilen übernehmen möchten.«
»Aber niemand von denen ist so gut unterwiesen, dass wir unsere Arbeit schaffen könnten. Es gibt noch so vieles zu tun, um das Festmahl vorzubereiten.«
»Welches Festmahl?«, fragte Kyla.
»Das heutige Mahl Euch zu Ehren. Viele Würdenträger der Stadt werden hierher kommen, um Euch zu sehen und Euch Ihre Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen.«
Kyla drehte sich bei diesen Worten fast der Magen um. Sie schob den Rula-Sud von sich, den sie ohnehin nicht hatte trinken wollen.
»Dann wird das Festmahl eben ausfallen. Meine Verpflichtungen lassen es auch gar nicht zu, daran teilzunehmen.« Yola sah nun so enttäuscht aus, dass es Kyla beinahe leid tat, sie so vor den Kopf zu stoßen.
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