Die Luft im Geschäft war staubig und abgestanden. Nach dem grellen Sonnenlicht mussten sich Kylas Augen an die Düsternis darin erst einmal gewöhnen. Sie blickte sich um und staunte über wahre Bücherberge, die an zahlreichen Stellen aufgestapelt waren. Es schien ihr unmöglich, hier auf die Schnelle einen Überblick über die vorhandenen Titel zu erlangen. Als sie ein Räuspern vernahm, erkannte sie einen alten Mann, der in einer winzigen Ecke hockte und mit einem Vergrößerungsglas eine Landkarte betrachtete.
Er hatte aufgeblickt. Ohne förmlichen Willkommensgruß fragte er: »Was begehrt dein Geist? Wünschst du eine unterhaltsame Geschichte mit einem schmucken Kerl, der das Herz einer jungen Dame erfreut? Nun, die Liebesgeschichten findest du in der Ecke dort hinten. Sieh sie dir an, aber bring mir nichts durcheinander!« Kyla sah in die Richtung, in die der alte Mann mit seinem knorrigen Finger deutete. Er hustete und spuckte etwas Auswurf in ein Tuch, das er wohl eigens zu diesem Zweck in der Tasche seiner Weste getragen hatte.
»Ich suche keine Liebesgeschichten«, erwiderte Kyla und überlegte, wie sie den Mann am besten über ihr Anliegen in Kenntnis setzte, als er ihr erneut zuvorkam.
»Nun denn, willst du wissen, welche Krankheit dich ereilt hat? Ein Brennen im Schritt? Pelzige Zunge? Oder gar ein übler Geruch aus deinen Eingeweiden? Rat findest du in diesen beiden Bänden dort.« Er zeigte auf ein Regal, das ihm schräg gegenüber stand. Kyla spürte, dass sie wegen seiner vorlauten Art ärgerlich wurde.
»Du scheinst selbst ein oder zwei Bücher zu viel über die Kunst der Wahrsagerei gelesen zu haben. Doch glaube mir, sie taugen nichts, denn deine Vermutungen, was ich begehre, sind allesamt falsch.«
Der Mann zog die Augenbrauen zusammen, als überlege er, ob er zu erkennen geben sollte, dass er wusste, dass sie einen Scherz mit ihm getrieben hatte. Er entschied sich jedoch dagegen. Stattdessen bekam er einen neuerlichen Hustenanfall, von dem Kyla das Gefühl hatte, er wäre nur vorgetäuscht, um Zeit zu schinden. Endlich entschloss er sich, seine mögliche Kundin wegen ihres Anliegens selbst zu Wort kommen zu lassen, und machte eine auffordernde Geste.
»Ich wollte mich erkundigen, ob ein Mann hier war, um Bücher zum Verkauf anzubieten.«
Der Verkäufer lachte auf. »So etwa ein Dutzend, wenn ich allein den letzten Mondzyklus rechne.«
»Ich meine jemanden, der dich erst während der letzten paar Sonnenlichter aufgesucht hat. Er wäre dir aufgefallen. Seine Haut ist sehr blass. Sein Haar und seine Augen sind ungewöhnlich hell.«
»Ein Albino also?«, fragte der Mann und nickte wissend.
»Ja, ein Albino! War er hier?« Kyla war aufgeregt, weil Quyntyr offenbar tatsächlich Kontakt mit dem Verkäufer aufgenommen hatte. Zugleich spürte sie, dass sie darüber entsetzt war, denn es bedeutete vermutlich, dass Paraila mit ihrer Einschätzung von ihm nicht gänzlich verkehrt lag.
»Selbst wenn so jemand hier gewesen wäre, hätte ich ihn nicht erkannt. Meine Augen sind so schlecht, dass ich praktisch blind bin. Ich erkenne Chyrrta vor allem an ihrer Stimme.«
»Aber du hast in mir offenbar eine junge Frau erkannt, ohne dass ich auch nur ein Wort gesagt hatte«, gab Kyla zu bedenken.
»Das liegt an deiner Körperhaltung und an den Formen, die ich an deinem Körper ausmachen kann.«
Kyla ignorierte das lüsterne Lächeln, das kurz die Mundwinkel des alten Mannes umspielte. Sie versuchte, ihre Stimme so gelassen wie möglich klingen zu lassen.
»Immerhin betrachtest du eine Landkarte. Mit einem Vergrößerungsglas zwar, aber so blind kannst du dann doch gar nicht sein. Bitte erinnere dich, ob du mit dem Mann gesprochen hast, den ich beschrieb.«
Nun seufzte der Verkäufer tief und legte das Vergrößerungsglas auf den Tisch.
»Auch wenn ich die Karte betrachte, so sehe ich selbst mit dem Glas nicht mehr, als ein paar Linien. Ich weiß nur aus der Erinnerung, wie sie aussieht.«
Kyla konnte es einfach nicht glauben. Sie trat näher an den Tisch heran und betrachtete den Mann, der ihr Starren jedoch gar nicht zu bemerken schien. Seine Augen waren trüb. Kyla verspürte Mitleid. Es musste schwer sein, ein Leben zwischen Büchern zu führen, wenn man nicht mehr in der Lage war, sie selbst lesen zu können. Offenbar kannte er seinen Laden so gut, dass er sich in der Lage fühlte, weiterhin Kunden zu beraten. Jedoch nicht, ohne sie zu ermahnen, nichts durcheinander zu bringen, denn nur so fand er sich offenbar selbst noch zurecht.
Ihr Blick fiel auf die Karte. Sie zeigte zu ihrem Erstaunen das komplette Reich und auch noch Gebiete darüber hinaus, die jenseits der Undurchdringlichen Mauern lagen. Doch das Merkwürdige war, dass eben jene Mauern auf der Karte überhaupt nicht verzeichnet waren.
»Von wann ist diese Karte?«, fragte sie und wollte danach greifen. Der Mann zog sie ihr jedoch unter den Händen weg, bevor Kylas Finger sie berühren konnten.
»Sie ist alt.«
»Wie alt?«
»Sehr alt.«
»Und woher hast du sie?«, fragte Kyla nur mühsam beherrscht.
Der Mann presste die Lippen aufeinander, als wolle er ihr keine Antwort mehr geben, und tatsächlich schwieg er nun. Einen Moment lang überlegte Kyla, ihn durch die Offenbarung ihrer Identität dazu zu zwingen. Der fast blinde Mann hatte natürlich keine Ahnung, wen er da vor sich hatte. Aber Kyla entschied, ihn nicht durch ihren Status unter Druck zu setzen, sondern sich lieber in Diplomatie zu üben.
»Wenn du mir sagen kannst, von wann sie ist und woher sie stammt, würde ich sie dir für einen guten Preis abkaufen.«
»Sie ist unverkäuflich«, stellte der Mann klar. Kyla war ratlos. In Diplomatie hatte sie offensichtlich noch Defizite. Sie entschied, auf ihr eigentliches Anliegen zurückzukommen.
»Wurden dir in letzter Zeit besonders kostbare Bücher angeboten? Daran würdest du dich doch bestimmt erinnern.«
»Alle Bücher, die ich annehme, sind kostbar.«
Kyla spürte, dass ihre Geduld sie verließ. »Dann zählst du die Liebesgeschichten dazu, die du dort hinten in dem wackeligen und staubigen Regal untergebracht hast?«
Der Mann verzog das Gesicht. Kyla verspürte ein wenig Triumph, weil sie ihn in Verlegenheit gebracht hatte.
»Für Chyrrta mit einfachem Gemüt sind sie kostbar. Bei manchen meiner Kundinnen habe ich sogar das Gefühl, ihr gesamtes Wohlergehen hängt vom Erwerb dieser romantischen Bücher ab.«
»Mag sein, dass diese Damen es so empfinden. Dennoch – hast du kürzlich Bücher mit anderen Themen erworben? Wissenschaftliche Ausgaben? Werke über Kampfkunst? Waffenverzeichnisse oder Ähnliches?«
Der Mann überlegte. »Ich erwarb vor drei oder vier Sonnenlichtern eine Kiste Bücher, die sich mit dem Thema Holzbearbeitung und Hüttenbau beschäftigen. Meinst du so etwas?«
Kyla seufzte. »Nein, eher nicht. Hast du sonst noch etwas in dieser Art in letzter Zeit erworben?«
Der Verkäufer kratzte sich an der Stirn und grübelte. »Viehzucht. Ein kleines Bändchen, das vom Verkäufer selbst verfasst wurde.«
»Auch das stammt mit Sicherheit nicht von dem Mann, den ich suche. Gibt es noch andere Läden oder vielleicht Markthändler hier, die bereit wären, für Bücher, wie ich sie genannt habe, viel Geld auszugeben?«
»Meines Wissens nach nicht. Ich bin der einzige, der mit literarischen Werken handelt. Zu meinem Leidwesen muss ich sagen, dass in dieser Stadt das meiste Geld für Tand wie Schmuck oder auch Gemälde ausgegeben wird. Naschwerk und berauschende Getränke sind ebenfalls hoch begehrt. Bücher werden nicht ganz so oft verlangt – aber diejenigen, die daran Gefallen finden, zählen wohl ausnahmslos zu meinen Kunden.«
»Danke, dass du Zeit für mich hattest. Nun denn ...« Kyla wollte schon wieder aufbrechen, als ihr noch etwas anderes einfiel.
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