„Mord oder Selbstmord? Was meinen Sie auf Anhieb?“ fragte der Commissaire.
„Mord“, war sich Steiner sicher.
Rollinger war sich da keineswegs so sicher. „Er hält die Tatwaffe in der Hand. Jedenfalls ist aus der erst kürzlich ein Schuss gelöst worden, und das Magazin ist bis auf eben nur eine fehlende Patrone voll. Es liegt auch nur eine Patronenhülse hier herum. Seine Hände weisen Schmauchspuren auf. Warum also Mord?“
„Die Patronenhülse liegt zu weit von ihm entfernt. Auch die Richtung, wo sie liegt kann nicht mit der Richtung des Auswurfs der Waffe übereinstimmen, es sei denn, Herr Wagner sei enorm weit nach hinten gestolpert, nachdem er sich ein Loch in den Kopf geschossen hatte. Außerdem geben sich die, die sich selber auf diese Weise umbringen wollen, meistens im Sitzen oder im Liegen die Kugel. Ferner stelle ich fest, dass Herr Wagner einen Anzug trägt, so als hätte er vorgehabt ...“
„Schon gut, schon gut“, gebot ihm der Commissaire Einhalt. „Wäre es möglich, unsere Unterhaltung in Ihrem Chalet fortzusetzen?“
Harald stimmte dem Ansinnen zu, und beide Männer begaben sich zu seiner Ferienwohnung, wo sie in Sesseln der Wohnzimmerecke Platz nahmen.
„Sie hatten schon Recht, Herr Steiner, als Sie vermuteten, dass auch ich mir nicht gerne Ratschläge von Kollegen aufdrängen lassen will“, gab Rollinger unumwunden zu. „Allerdings sollten Sie wissen, dass bei uns in Luxemburg die Ferienzeit gerade erst begonnen hat. Wer Kinder im schulpflichtigen Alter hat, bekommt in dieser Periode Urlaub, was impliziert, dass unsere Dienststellen für solche Fälle momentan unterbesetzt sind. Der einzige augenblicklich arbeitende kompetente Gerichtsmediziner hat bereits eine Brandleiche einer erschossenen Frau auf seinem Tisch liegen, und die meisten Beamten meiner Behörde befinden sich an irgendeiner Costa del sowieso.
Ich stehe also ziemlich hilflos vor einem Berg Arbeit, da ich es mit zwei ungeklärten Fällen zu tun und nur einen Kriminalinspektor und einige Berufsanfänger als Gehilfen zur Verfügung habe. Doch bevor ich Ihnen mein Problem weiter darlege, muss ich Sie fragen, wo Sie sich heute zwischen 11.30 und 12.30 Uhr aufgehalten haben.“
Harald fand nichts Anrüchiges an dieser Frage. Er hätte sie selber auch so gestellt. Er griff nach seiner Brieftasche, der er die Rechnung eines Restaurants entnahm. Rollinger nahm sie in Augenschein und stellte fest, dass der Ausdruck 12.13 Uhr angab und sich das betreffende Restaurant in der Hauptstadt befand. Gemäß den aufgelisteten Speisen und Getränken musste Steiner mindestens eine halbe Stunde dort verbracht haben, also etwa von 11.45 bis 12.15 Uhr, und innerhalb einer Viertelstunde wäre es ihm nicht gelungen, von dort bis hierher zu gelangen.
„Nun gut“, meinte der Commissaire, „das wird natürlich noch routinemäßig überprüft werden, aber ich glaube Ihnen, dass Sie wohl kaum Wagners Mörder sein dürften, falls er denn ermordet worden ist.“
Er zupfte sich an seinem Oberlippenbart, ehe er fortfuhr. „Auch wenn Sie nicht zum Tatzeitpunkt hier vor Ort waren, sind Sie für uns ein wichtiger Zeuge. Da Sie zudem selber ein Mann unseres Fachs sind, könnten Sie uns ja vielleicht auch ein wenig logistisch von Nutzen sein.“
Deutlich war, Rollinger wartete auf Steiners Reaktion.
„Ich kann Ihnen nur das sagen, was ich über Herrn Wagner weiß, weil ich es selber von ihm gehört habe, und meine doch wohl subjektive Meinung zu dem kundtun, was ich über das denke, was ich gerade in seiner Wohnung gesehen habe. Vergessen Sie nicht, ich bin nur Urlaubsgast und keineswegs befugt, hier Ermittlungen anzustellen.“
„So weit wollte ich Sie nun auch nicht in den Vorgang einbinden“, sprach Rollinger besänftigend. „Erzählen Sie mir zunächst bitte, wann und wie Sie Herrn Wagner kennenlernten und worüber Sie sich mit ihm unterhalten haben.“
Das tat Steiner in aller Ausführlichkeit, während sich der Commissaire Notizen machte. Es war für diesen nicht erforderlich, Nachfragen zu stellen, denn Steiner wusste alles so präzise auf die Reihe zu setzen, wie er es selber auch am liebsten aus dem Mund eines Zeugen hätte hören wollen.
Schließlich befand André Rollinger: „So, wie es Ihnen Herr Wagner geschildert hat, scheint er ja wirklich einerseits existenzielle Probleme befürchtet und andererseits munter an Abhilfe dessen gearbeitet zu haben.“
„Den Eindruck hatte ich jedenfalls“, stimmte der KHK zu.
Rollinger folgerte weiter: „Jetzt verstehe ich auch, wieso Sie eben, als wir den Tatort in Augenschau nahmen, auf den Anzug, den Herr Wagner trug, hinweisen wollten. Er hatte Ihnen gesagt, heute Nachmittag einen Termin bei der Handelskammer in der Stadt zu haben.“
„Stadt? Welche Stadt meinen Sie?“ fragte Harald irritiert. „Ich sagte Luxemburg. Die nächst gelegene Stadt wäre doch Ettelbrück, oder?“
„Wenn wir hier im Großherzogtum über ‚die Stadt’ reden, meinen wir immer die Hauptstadt“, erläuterte der Kollege amüsiert. „Und Sie haben ja jetzt selber nochmals gesagt, er habe heute nach Luxemburg Stadt fahren wollen.“
„Genau“, erwiderte Steiner knapp. Er fühlte sich ein wenig von sich selber überrumpelt, hätte er doch von sich aus auf diese landesspezifische Eigenheit kommen können, da es außer der Hauptstadt keine Städte gab, die, nach Einwohnerzahlen gemessen, ein solches Prädikat verdienten. Und sogar die Hauptstadt war mal knapp etwas größer als Euskirchen.
„Demnach hätte er sich also bestimmt nicht chic zu machen brauchen, wenn er sich ohnehin eine Kugel in den Kopf jagen wollte, nicht wahr?“
„Es sei denn, er wollte seinen Selbstmord wie einen Mord aussehen lassen“, ergänzte Steiner.
„Sehen Sie, Herr Kollege, und somit stehen wir jetzt wieder eins zu eins, was die beiden Thesen Mord oder Selbstmord angeht. Und ich werfe noch ein gewichtiges Argument für die Suizidthese in die Waagschale. Weshalb sollte Herr Wagner bei der Handelskammer vorstellig werden wollen, wenn er nicht einmal ein Dossier bei sich hatte?“
Harald dachte kurz nach. Am Freitagabend hatte er doch deutlich gesehen, wie sein Nachbar auf seiner Veranda beflissen in einer Akte gelesen hatte, und auf seinem Tisch hatten auch noch Ordner und Schnellhefter gelegen.
„Er hatte Akten bei sich“, merkte er daher an und berichtete von seiner diesbezüglichen Beobachtung am ersten Abend nach seiner Ankunft in Wellscheid.
„Das ist aber merkwürdig“, meinte Rollinger. „Bislang haben unsere Leute nichts dergleichen gefunden, auch nicht in seinem Auto. Vielleicht hat er die Akten ja inzwischen weggefahren.“
„Weggefahren?“ Diese Frage stellte Harald an sich selber. Nein, so überlegte er, den Jaguar hatte Wagner, seit er ihn am späten Freitagnachmittag zum ersten Mal gesehen hatte, augenscheinlich nicht mehr von der Stelle bewegt. Als Harald heute von seiner Fahrt nach Luxemburg zurückgekommen war, stand der Jaguar immer noch am selben Platz.
„Nein, Herr Rollinger, mit seinem Auto ist er nicht weggefahren. Er könnte Besuch gehabt haben oder mit einem anderen in dessen Auto weggewesen sein. Aber ... Ich hätte es nicht unbedingt mitbekommen müssen. Ich war am Samstag, am Sonntag und heute immer mal selber einige Stunden weg gewesen.“
„Das hilft uns also nicht richtig weiter“, stellte der Commissaire fest.
„Da haben Sie wohl Recht“, schloss sich Harald dieser Ansicht an. „Aber man muss die Sache einkreisen. Ist der Schuss aufgesetzt gewesen? Wenn nicht, kann es kein Selbstmord gewesen sein. Was ist mit Wagners Handy? Hatte er ein Notizbuch dabei ...“
Wieder einmal sah sich Rollinger genötigt, den Deutschen auszubremsen.
„Das mit dem aufgesetzten Kopfschuss wird die Pathologie klären. Das andere ist Sache der Spurensicherung und der Kriminaltechnik.“
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