Dennoch hatte Steiner seinerseits auch einige Fragen zu stellen.
„Wie, wann und vom wem ist Alfons Wagners Leiche denn gefunden worden?“
„Gefunden wurde er kurz vor ein Uhr heute Mittag von der Eigentümerin des Hofs. Sie wollte Herrn Wagner die heutige Ausgabe des ,Luxemburger Wort’ vorbeibringen, wie sie es schon jeden Tag seit seinem Einzug in das Chalet vor etwa einer Woche gemacht hatte. Ich war dann etwa eine halbe Stunde später vor Ort. Ein Arzt des Notdienstes von Ettelbrück war vor uns und gleichzeitig mit der ersten Streife aus Ettelbrück hier eingetroffen. Der Arzt hatte den Tod festgestellt und die Todeszeit auf 11.30 bis 12.30 Uhr eingekreist. Der Schuss dürfte unmittelbar tödlich gewesen sein.“
„Die Waffe in Wagners Hand war nicht mit einem Schalldämpfer versehen. Den Schuss muss man dann doch weithin gehört haben“, gab Steiner zu bedenken.
Rollinger lächelte mitleidig. „In den Ferienhäusern wohnen momentan Touristen. Was machen die bei einem solch schönen Wetter? Sie suchen das Wasser auf oder gehen wandern. Und die Eigentümer waren bis kurz vor eins auf einem einige Kilometer entfernten Feld bei der Heuernte. Auf diesem Areal befanden sich also zur Tatzeit nur Herr Wagner und sein Mörder, wenn es denn einen solchen gibt.“
„Tja, dann müssen wir wohl abwarten, was sich sonst noch ergibt“, meinte Harald. „Ich wüsste allerdings nicht, wie ich Ihnen noch behilflich sein kann.“
„Das werden wir sehen“, sagte der Commissaire. „Zunächst warte ich die Befunde der Sachverständigen ab. Mir wäre ein eindeutiger Selbstmord jedenfalls genehmer.“
Rollinger war wieder zum Nachbarhaus gegangen, und Harald machte es sich wieder einmal mit einer Flasche Bier und einer unterwegs bei seinem Abstecher in die Hauptstadt gekauften Tageszeitung in seinem Liegestuhl auf der vorderen Veranda bequem.
Trotz allen Bemühens, sich in die Lektüre zu vertiefen, schweiften seine Gedanken immer wieder zu dem Geschehnis in der Nachbarhütte ab. Mord oder Selbstmord? Betrachtete man es von der Seite der wirtschaftlichen Lage der Augsburger Firma Wagners her, war es durchaus denkbar, dass er sich einen möglichst als Mord auslegbaren Abgang ausgedacht haben könnte. In dem Fall hieße das, er hätte Steiner in den letzten Tagen nur zur Show ein Märchen über einen hoffnungsvollen Neustart in Luxemburg aufgetischt. Aber wie erklärte sich dann sein Termin bei der Handelskammer, den er an diesem Montag wahrnehmen wollte? Oder war auch das nur eine Finte?
Der KHK glaubte in diesem Fall nicht an eine gespielte Augenwischerei seitens Wagner ihm gegenüber. Er hatte ein Gespür dafür, wann Menschen logen, und bei Wagner hatte er eher das Gefühl gehabt, dass er tatsächlich in Euphorie schwelgte.
Nun überlagerten sich mehrere Gedankengänge. Sollte es doch ein gut ausgeklügelter Selbstmord gewesen sein, dann musste man doch irgendwie rausbekommen können, wie die Akten verschwunden waren. Entweder hatte Wagner sie zu Fuß weggeschleppt und irgendwo im näheren Umkreis so gut versteckt, dass man sie nach größter Wahrscheinlichkeit niemals mehr wiederfinden würde, oder es gab jemanden, der sie entgegengenommen hat, ehe Wagner den Suizid beging.
War es aber Mord, dann war die Tat so ausgeklügelt worden, dass man sie für einen Selbstmord halten musste oder zumindest konnte. Hatte man ihn womöglich gezwungen, sich selbst die Waffe an die Stirn zu setzen und abzudrücken? Ein riskantes Unternehmen für den Nötiger, da er ihm ja eine geladene Waffe in die Hand gegeben hätte. Wer schießt sich schon in die Stirn? In die Schläfe, in den Mund schräg aufwärts oder vom Kinn senkrecht aufwärts, ja, das wären die logischeren Suizidmethoden gewesen, aber nicht so, wie es passiert war.
So oder so müsste die Patrone in Wagners Kopf aus der Waffe stammen, die er in der Hand gehalten hatte. Die Hypothese des erzwungenen Selbstmordes hinkte zu sehr, als dass man sie für realistisch halten könnte. Wagner war nicht der Typ, der sich mal eben zu so etwas hätte zwingen lassen, ohne nicht noch seine letzte Möglichkeit auszureizen.
Langsam entwickelte sich vor Steiners innerem Auge ein ganz anderes Szenario. Wagner war unbewaffnet gewesen. Die Waffe hielt sein Mörder in der Hand. Vermutlich setzte der ihm diese auch an die Stirn und drückte ab. Aber was war dann mit den Schmauchspuren an Wagners Hand? Wieso fehlte nur eine Patrone im Magazin? Wieso lag die ausgeworfene Hülse so weit vom Opfer entfernt?
Sollte es Mord gewesen sein, muss es zwei Schüsse gegeben haben. Den ersten feuerte der Mörder ab, den zweiten feuerte er auch ab, allerdings erst nachdem er seinem toten Opfer die Waffe in die Hand gedrückt hatte. Eine von beiden ausgestoßenen Hülsen nahm er mit, und zwar die Erste. Das erklärte auch die unlogische Lage der anderen Hülse auf dem Teppichboden. Wo war aber die zweite Patrone abgeblieben?
Als die Spurensicherer sich gegen 17 Uhr aus Wagners Ferienwohnung zurückzogen und diese versiegelten, kam Rollinger nochmals zu Steiner rüber.
„Raubmord scheint es nicht gewesen zu sein“, erklärte er. „Seine Brieftasche war noch vorhanden. Sein Handy übrigens auch. Ein Notizbuch fanden wir zwar nicht, aber immerhin einige Zettel mit Namen und Telefonnummern. Vielleicht komme ich deswegen nochmals morgen auf Sie zu. Die Leiche ist zwecks weiterer Untersuchungen bereits abtransportiert worden.“
„Habe ich gesehen. Natürlich können Sie mich jederzeit noch befragen, wenn Sie das für notwendig erachten“, äußerte sich der Deutsche. „Haben Sie denn zufällig auch noch irgendwo eine weitere Patrone gefunden? Im Mauerwerk, im Türrahmen oder so?“
Der Commissaire sah Steiner an, als hätte er einen Bescheuerten vor sich. „Eine zweite Patrone? Nein, da war nirgendwo eine zweite Patrone. Wieso fragen Sie?“
„Ach, nur so“, gab sich Harald weiter nur halb interessiert.
Kaum waren alle abgezogen, begab sich Steiner auf die Wiese, die sich gegenüber von Wagners Bungalow befand. Kommissar Zufall war ihm gut gesonnen. Nach nur wenigen Minuten hatte er gefunden, was er suchte.
Noch vor 18 Uhr rief er Kirminaloberrat Strasser in Köln an und berichtete ihm von dem Mord an seinem Feriennachbarn. Strasser war alles andere als begeistert.
„Mann, Steiner, laufen Ihnen die Fälle jetzt schon bis in den Urlaub hinterher?“
Harald schmunzelte. „Mein Beruf ist nun mal meine Berufung.“
„Na toll. Aber Sie berichten mir das alles doch nicht, damit ich ein wenig Unterhaltung habe, oder? Sie führen doch etwas im Schilde.“
„Nun ja, dieser Selbstmord war mit Sicherheit kein Selbstmord“, entgegnete der KHK.
„Wenn Sie das sagen“, schnaubte Strasser. „Das ist und bleibt aber Sache der Kollegen in Luxemburg. Ich wüsste nicht, was Sie damit anderes zu tun haben, als möglicherweise als Zeuge fungieren zu können.“
„Vielleicht kann ich diesem Rollinger ja ein wenig auf die Sprünge helfen.“
„Und wie soll ich Ihre Teilnahme erwirken?“
„Lassen Sie doch einfach mal nachprüfen, was bei uns über Alfons Wagner aktenkundig ist. Dann wird Ihnen doch gewiss etwas einfallen.“
„Sie können es wohl einfach nicht bleiben lassen, was?“ schimpfte Strasser. „Mir soll es recht sein. Hat der Kerl auch nur ein Stäubchen Dreck am Stecken, werde ich das Nötige veranlassen. Wie steht denn dieser Herr Rollinger überhaupt dazu, falls ich Sie bei denen als ungebetenen Zaungast einschleuse?“
„Er wird nicht gerade vor Freude in die Luft springen. Andererseits sind ihm im Augenblick urlaubsbedingt die Leute abhanden gekommen.“
2. Das Brüsseler Immobilienkartell
Der Dienstagmorgen begann für Harald Steiner wie ein gewöhnlicher Urlaubstag, nur dass er irgendwie gar keine Lust mehr hatte, sich urlaubsmäßig zu verhalten oder zu fühlen. Der Mordfall nebenan - jedenfalls war er überzeugt davon, dass es sich dabei um einen Mordfall handelte - hatte seine gesamte Aufmerksamkeit und sein gesamtes Denken beschlagnahmt.
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