„Sie suchen sicher auch die Ruhe, nehme ich an.“
„Genau das“, erwiderte Steiner knapp. Und hoffentlich lässt du mich jetzt auch in Ruhe,
„Wir sehen uns bestimmt später noch“, kündigte der Fremde an, was bei Steiner wie eine gefährliche Drohung ankam.
Der Mann verschwand in sein Feriendomizil, und Harald überlegte kurz, wieso er einen Anzug trug, wenn er hier nur der Ruhe wegen hergekommen war. Aber was sollte das ihn bekümmern?
Kurz vor Sonnenuntergang ging Harald ins Innere und machte sich einige der mitgebrachten Bratwürste warm, die er teils mit Senf und teils mit einer anderen scharfen Soße bestrich, um sie dann auf der Terrasse zu verspeisen.
Als er wieder mit seinem Teller und einer Flasche Bier auf die Veranda trat, sah er, dass sein Nachbar es sich ebenfalls auf der Veranda des benachbarten Chalets gemütlich gemacht hatte. Gemütlich? Nein, ganz so sah das eigentlich doch nicht aus, glaubte Steiner. Zwar war der Mann nun in Freizeitkleidung gehüllt, aber saß in seinem Liegestuhl aufrecht und war konzentriert in einem Aktenordner vertieft. Doch auch darum wollte Harald sich nicht scheren. Er mampfte seine Bratwürste, trank sein Bier und schlug anschließend die aus Köln mitgebrachte Tageszeitung auf.
„Darf ich Sie kurz stören?“
Harald hatte vielleicht eine halbe Stunde konzentriert gelesen, als ihn diese Worte aus der Welt der Presse wieder in die Gegenwart rissen. Gleich vor ihm neben der Veranda stand der Kerl von nebenan.
Er antwortete höflich, wenn auch nicht besonders begeistert: „Aber sicher doch.“
„Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Alfons Wagner. Ich dachte mir, es wäre vielleicht kein schlechter Gedanke, statt allein ein Bier zu trinken, es zu zweit zu tun.“
Der KHK sah ihn ausdruckslos an. Er hatte gar nicht vor, mit jemandem einen Zechabend durchzuziehen, aber die gute Erziehung gebot ihm eine andere Fasson. „Wenn Ihnen danach ist, will ich mich dem nicht verschließen. Darf ich Sie einladen?“
Der Mann bestieg die zwei Stufen bis zur Terrasse, und Harald sah jetzt erst, dass an den Fingern seiner linken Hand ein Sechserpack Bierflaschen baumelte.
Als er vor Steiner stand, streckte er ihm die rechte Hand entgegen, und Harald schüttelte sie, stellte sich ebenfalls namentlich vor und sah sich genötigt, Wagner Platz auf dem zweiten Liegestuhl anzubieten.
Alfons Wagner begann sich unaufgefordert sehr leutselig und ausgiebig über sich selbst zu offenbaren. Er sei Bauunternehmer aus Augsburg, aber in den letzten Jahren habe er seine einst florierende Firma immer weiter zurückfahren müssen, weil die Kundschaft immer geringer, die Zahlungsmoral immer mieser und die Konkurrenz immer heftiger geworden war.
„Hält man sich an die Gesetze, ist man zu teuer, hält man sich nicht an ihnen, fliegt man früher oder später auf die Nase und ist trotzdem kaputt.“
„So, so“, hakte Steiner eher desinteressiert nach. „Und woran liegt das denn genau?“
„Ach, überall diese illegalen Ausländer, Schwarzarbeiter und Scheinfirmen“, redete sich Wagner in Rage. „Sobald man ein Angebot abgegeben hat, kriegt man zu hören, da seien mindestens vier andere Anbieter wesentlich billiger. Geiz ist eben geil, Herr Steiner. Da schaut keiner genau hin, ob unsere Mitbewerber sich unterbezahlter Ukrainer bedienen oder ob sich da irgendwelche Makaken selber in Deutschland als Unternehmer für nur ein oder zwei Projekte haben registrieren lassen. Sie kommen aus Polen oder so einem Billiglohnland, das neu in der EU ist, melden ein Gewerbe an, wofür Sie als Deutscher Jahre um eine Zulassung kämpfen müssten, das ihnen auch noch prompt sofort und unbesehen bewilligt wird, schleusen zwanzig ihrer Landsleute oder solche aus der Mongolei ohne Arbeitspapiere ein, machen die billigsten Preise, betreiben Pfusch am Bau, bezahlen ihre Lieferanten nicht, kassieren bis zu 80 % der Bausumme und verschwinden wieder, bevor alles fertig ist und sie zur Rechenschaft gezogen werden können.
Die Bauherrn sind dann zwar die Gelackmeierten, aber wir normalen und regelkonformen Unternehmer schauen in die Röhre.“
„Tja“, meinte Harald ungerührt, obwohl er durchaus Wagners Ansicht teilte, „die Europäische Einheit fordert nun einmal ihren Tribut.“ Lieber hätte er zum Ausdruck gebracht, seinetwegen könne man die gesamte EU in die Luft sprengen und zur Nationalstaatlichkeit zurückkehren. Einige bilaterale Verträge unter Staaten wären effektiver, billiger und vor allem nach Bedarf revidierbar.
Wagner grunzte verächtlich. „Ich bin jetzt 57 Jahre alt. Ich habe nicht vor, bis zu meinem Ruhestand einen Bankrott hinzulegen, weil mir die Felle davonschwimmen oder ich mich darauf einlasse, Schwarzarbeiter zu beschäftigen. Und trotzdem beabsichtige ich nicht, die Segel zu streichen. Deshalb halte ich mich momentan in Luxemburg auf.“
Das interessierte Steiner schon etwas mehr. „Was haben Sie denn hier vor? Luxemburg ist immerhin genau wie Deutschland Mitglied der EU.“
Wagners Gesicht formte sich zu einem Überlegenheit ausdrückenden Lächeln. „Ihre Feststellung ist richtig, aber im Gegensatz zu Deutschland achten die Behörden hier in diesem kleinen Land noch sehr akkurat auf die Einhaltung der Arbeits- und Sozialgesetze. Deshalb will ich hier Fuß fassen, verstehen Sie?“
Steiner nickte, obwohl er es noch nicht ganz verstand. Welcher Arbeitgeber kann denn schon Arbeits- und Sozialgesetzen etwas abgewinnen? Andererseits unterband eine strenge Handhabung solcher Gesetze natürlich auch die Beschäftigung illegaler Arbeitskräfte.
„Jedenfalls beabsichtige ich, hier in Luxemburg eine neue Firma aufzubauen, eine Art Bauträgergesellschaft. Grundstücke habe ich schon in Aussicht, das Kapital dürfte ich auch schon bald zusammen haben, und jetzt kümmere ich mich um die Genehmigungen.“
Der eigentlich ungebetene Gast begann sich zu besinnen, hier Gast zu sein, und wechselte das Thema. „Welcher Profession sind Sie denn eigentlich?“
Darauf konkret zu antworten, behagte Harald weniger, und um möglichst jeglichen Nachfragen auszuweichen, antwortete er: „Ich bin Beamter im Öffentlichen Dienst.“
Wagners Reaktion war ziemlich atypisch. Eigentlich hätte er nachfragen müssen, in welcher Sparte Steiner tätig war, aber das schien er nicht für sonderlich wichtig zu erachten. Stattdessen äußerte er: „Dann haben Sie ja eine gewisse Ahnung, wie ich das mit diesen Ausländern und Schwarzarbeitern meinte.“
„Gewiss“, gab sich Harald zurückhaltend. „Auch wir haben da so unsere Erfahrungen machen müssen.“ Um aber nicht weiter darauf eingehen zu müssen, kam er nun seinerseits auf etwas anderes zu sprechen, nämlich auf die historischen Stätten, die er in den nächsten Tagen zu besichtigen gedachte.
Alfons Wagner kam so vom Thema jeglicher beruflicher Probleme ab, und die Diskussion begann sich um Banaleres zu drehen.
Nach etwa zwei Stunden belangloser Plaudereien zog sich Wagner zurück, und auch Steiner gedachte, zu Bett zu gehen.
Den Samstagvormittag verbrachte Harald mit Einkäufen im nahegelegenen Ettelbrück und in Diekirch. Er wollte seinen Lebensmittel- und Getränkevorrat für die nächsten Tage aufstocken. Nach der Einnahme eines bescheidenen Mittagsmahls in seiner Küche beschloss er, eine Wanderung in den nahen Wäldern zu unternehmen, wovon er gegen 17 Uhr zurückkehrte. Danach legte er sich für einige Stunden in einen der beiden Liegestühle auf der hinteren Terrasse, weil er keine Lust hatte, an diesem Abend nochmals mit Wagner seine Freizeit zu vergeuden.
Übrigens hatte er die vier Male, die er an diesem Tag an Wagners Bungalow vorbeigekommen war, festgestellt, dass der sich offenbar noch nicht nach draußen begeben hatte. Zumindest wies nichts auf Wagners Veranda darauf hin, die Gartenmöbel könnten bewegt worden sein, und der Jaguar war es mit angrenzender Sicherheit auch nicht.
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