Vermutlich resultierte ihr Erfolg auch daraus, dass sie es von ihrer Kindheit her gewohnt war zu parieren. Ihr Vater war immer autoritär gewesen, und das war Steiner auch. Sie opponierte nie gegen ihren Chef, wie sie es früher auch nie gegenüber ihren Vater getan hatte. Das war für Steiner natürlich eine komplett neue Konstellation. Alle ihm bisher untergeschobenen Gören hatten irgendwann begonnen, seine Autorität in Frage zu stellen, es gewagt, seinen Führungsstil zu kritisieren. Aber diese Mink, die war nicht aus der Ruhe zu bringen, nicht zu erschüttern, ihr war nicht auf die „Schliche“ zu kommen. Insgeheim bewunderte er sogar ihr Engagement. Sie weigerte sich nie, Überstunden zu machen oder außerplanmäßig einzuspringen, wenn mal ein Kollege verhindert war. Trotzdem blieb sie in seinen Augen eben „nur“ eine Frau, also ein Missgeschick der Schöpfung.
Im Gegensatz dazu empfand Monika ihn gar nicht als sonderlich schlimm. Er war fordernd, aber gewiss nie ungerecht zu ihr. Er war kurz angebunden, aber seine Befehle waren für sie immer deutlich. Sie bewunderte ihn insbesondere, wenn er in der Runde seiner Assistenten seine Theorien über Tatvorgänge und deren Hintergründe entfaltete. Er traf nämlich fast immer ins Schwarze, wie sich hinterher meistens herausstellte. Sie betrachtete ihn als einen strengen und guten Lehrer. Sie hatte nicht vor, sich von seiner eigensinnigen Art verdrießen zu lassen. So oder so war er ihr Garant dafür, sich beruflich verbessern zu können.
So lagen die Dinge also zwischen Monika Mink und Harald Steiner, als sich Letzterer am Freitag vor dem letzten Wochenende des Julis auf Strassers Druck hin in den Urlaub verabschiedete. Und zu diesem Zeitpunkt beging Steiner einen Fehler, der die Dinge zwischen ihm und der Mink total auf den Kopf stellen sollte. Während er Frisch und Schmidt kurz vor seiner Abreise den Auftrag erteilte, einen Mord im Rotlichtmilieu zu klären, trug er der Mink einen Suizidfall an, den eigentlich sogar ein Drittklässler innerhalb weniger Stunden hätte durchleuchten können. Steiner hätte das vielleicht später als den größten Sündenfall seines Lebens bezeichnet, wenn nicht alles noch ganz anders gekommen wäre.
Steiner traf am späten Freitagnachmittag auf dem Hof in der Nähe des luxemburgischen Weilers Wellscheid ein, auf dem er einen der freistehenden Bungalows oder, wie es nobler hieß, Chalets gemietet hatte. Die Bäuerin überreichte ihm die Schlüssel zu dem Haus, erklärte ihm, um welche der vier Hütten es sich handelte, und predigte ihm die Hausordnung, wovon auch in jedem Bungalow eine Abschrift aushinge. Das Machwerk schien ausschließlich auf die Begriffe Ruhe, Sauberkeit und Ordnung zugeschnitten zu sein, etwas, was Steiner ohnehin schon immer von allen anderen und sich selber abverlangt hatte. Anschließend fuhr er seinen Mercedes C220 bis vor das von außen ordentlich gepflegt aussehende Gebäude.
Er hatte sich für diesen Verbleib während der nächsten drei Wochen entschieden, weil der ihm das versprach, was er sich unter Urlaub vorstellte, nämlich tatsächlich Ruhe und zudem den Ausgangspunkt für ausgiebige Rundfahrten in historische Gefilde. Mehr verlangte er nicht, und Wellscheid und dieser kleine Bungalowpark lagen so schön weit ab von der „zivilisierten“ Welt, dass ihn eigentlich nichts und niemand jetzt noch stören konnte, aber noch so nahe an historischen Stätten, dass er durchaus seinem lange verwahrlosten Hobby frönen konnte.
Die schmale Straße zwischen Niederfeulen und Kautenbach, die an dieser Stelle vorbeiführte, wurde kaum befahren. Der nächste größere Ort war Ettelbrück. Auf dem Gelände, das sich etwa 150 Meter von der Straße entfernt befand, standen nur vier Ferienwohnungen, wovon die zwei kleineren für je zwei Feriengäste und die zwei größeren für jeweils vier Feriengäste konzipiert waren. Er hatte eine der kleineren Sorte gebucht.
Er stieg aus, ging zur vorderen Veranda, schloss die Tür auf, betrat das Gebäude und ließ den ersten Eindruck des Inneren auf sich einwirken. Zunächst schien dieses Chalet bis auf eine bescheidene Ausnahme aus nur einem großen Raum zu bestehen, der bis zum First des Satteldachs reichte. Rechts eine Sitzecke, bestehend aus vier Sesseln, einer Schrankgarnitur und einem modernen Fernseher. Gleich dahinter erstreckte sich der hermetisch abgetrennte und durch eine Tür zu erreichende Raum, der den Sanitärbereich beinhalten musste. Ganz hinten rechts, also hinter dem ummauerten Sanitärbereich, der wie ein Fremdkörper in den Hauptraum hineinragte, befand sich eine Küchenzeile mit einem Tresen und vier Barhockern, allen nur erdenklichen Küchengeräten und -apparaten und einem runden Tisch mit vier Stühlen drum herum.
Links stand ein recht großes Doppelbett mit jeweils an beiden Seiten des Kopfendes ein Nachtschränkchen. Ganz hinten links befand sich ein Raum hoher Schrank, der wohl der Unterbringung von Kleidung und Gepäck diente. Zwischen diesem und dem Küchenbereich erlaubte eine voll verglaste Terrassentür den Zugang zur rückwärtigen Veranda, von wo aus man in dreißig beziehungsweise fünfzig Metern Entfernung die zwei nebeneinander liegenden größeren Ferienhäuser sehen konnte, die folglich weit genug weg standen, dass man von deren Bewohnern keinen allzu großen Radau zu befürchten brauchte. Ganz ähnlich verhielt es sich mit dem Chalet, das neben dem Haralds stand.
Von der Einrichtung her wirkte alles äußerst gediegen, vom Stil her eher wenig aufeinander abgestimmt. Harald hatte angesichts der ziemlich zentral betonten Platzierung des Doppelbetts den Eindruck, dem Bauherr und dem Architekt mussten bei der Konzeption dieser Hütte ein ganz bestimmtes Bild der künftigen Feriengäste vorgeschwebt haben. Denen schien unterstellt zu werden, sich entweder tagsüber nur außerhalb der Wohnung aufhalten zu wollen, oder nur hierherkommen zu wollen, um sich sexuell zu vergnügen, oder eben beides.
Für ihn war das aber unwesentlich. Ihm ging es nur um die Abgeschiedenheit und ein Minimum an zivilisiertem Komfort.
Er begab sich hinaus zu seinem Wagen und schleppte anschließend bei vier solcher Gänge sein Gepäck ins Haus. Zunächst verstaute er seine Kleider, und während er das tat, überraschte es ihn selber, auch drei komplette Anzugsgarnituren mitgenommen zu haben. Die brauchte er hier doch eigentlich nicht. Es war eben die Macht der Gewohnheit beim Einpacken gewesen, nahm er an. Für wichtiger erachtete er, dass die Flaschen des Kastens Bier, den er mitgebracht hatte, schnell im Kühlschrank verstaut waren, und das galt auch für die Essenswaren.
Als das geschehen war, nahm er sich aus seiner Kühlbox zwei weitere Bierflaschen und begab sich auf die Veranda, wo er es sich in einem der zwei Liegestühle gemütlich machte und alsbald in Anbetracht der warmen spätnachmittäglichen Julisonne eindöste.
Sehr lange konnte er noch nicht so vor sich hin geschlummert haben, als ihn ein unangenehmes, aber kurzes Geräusch aus dem Beinahschlaf herausriss. Erbost über diese Störung, blickte er in die Richtung der Lärmquelle und schnallte schnell die Ursache. Vor dem Ferienhaus neben dem seinen war eine Jaguarlimousine zum Stehen gekommen, und ihr Fahrer hatte vermutlich etwas arg scharf auf dem Kiesbelag gebremst.
Aus dem Jaguar stieg ein Mann von etwa Mitte fünfzig aus, der einen hellgrauen Anzug trug. Dieser Mann warf einen prüfenden Blick auf Steiners Mercedes. Harald begriff schnell, warum. Das Auto dieses Kerls trug ein Augsburger Kennzeichen, und vermutlich hatte er an diesem Ort nicht mit einem anderen deutschen Feriengast gerechnet. Das Großherzogtum war für gewöhnlich das Ferienrevier von „Flachlandtirolern“ (Niederländern).
Der Mann schaute zu Harald rüber. Als sich ihre Blicke kreuzten, winkte er Harald zu.
„Schönen guten Tag. Warm heute, was?“
Steiner winkte zurück und antwortete: „Ja, kann man wohl sagen.“ Er dachte aber, hoffentlich belässt der Kerl es bei dieser Floskel. Das tat der aber nicht.
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