Harald war kein Unmensch. Hin und wieder durfte ein solcher Neuzugang auch mal mit an einen Tatort kommen oder an einer Zeugenbefragung teilnehmen. Aber es war ja klar, dass solche Frischlinge der Kriminologie oder Überwechsler aus den Reihen nichtkriminalistischer Polizeidienste keine adäquaten Erfahrungen mitbrachten und daher ziemlich dümmliche Anfängerfehler begingen. Steiner hatte diese weiblichen Neuzugänge allesamt wegen Verfehlungen abgeschossen oder ihnen nahelegen können, selber um ihre Versetzung zu bitten.
Einen Wermutstropfen hatte es dann aber doch gegeben. Diese Kröte, die der KHK zu schlucken hatte, hieß Monika Mink, war 29 Jahre alt, sich keiner noch so niedrigen Arbeit zu schade und ließ sich nicht ein einziges Mal bei einem bedeutenden arbeitstechnischen Fehler erwischen. Und jetzt hatte diese Mink es schon drei Monate im K2 ausgehalten, ohne dass Steiner sie zermürben oder einen negativen Bericht über sie hätte schreiben können.
Zunächst war Harald über Strassers Urlaubsultimatum ziemlich empört gewesen. Natürlich konnte sein Vorgesetzter auch irgendwo irgendwelche routinierteren Frauen des Fachs im Rang von Kommissarinnen auftreiben und sie ihm als Ersatz für Frisch und Schmidt in sein Kommissariat einschleusen. Steiner hätte ihn jedenfalls formell nicht daran hindern können. Doch da gab es einen Aspekt an dem auferlegten Urlaub, der bei genauerem Hinsehen nicht ganz zu verwahrlosen war. Sollte er tatsächlich drei Wochen am Stück Urlaub nehmen und Frisch, Schmidt und Mink alles allein bewältigen müssen, was anstand, würden sie - so jedenfalls seine Überlegungen - nichts auf die Reihe kriegen. Vor allem nicht die Mink. Also gab er dem Begehren Strassers mit diesem bösen Hintergedanken nach und verabschiedete sich für die letzte Woche Juli bis Mitte August in den Urlaub, ganz darauf vertrauend, bei seiner Rückkehr das große Chaos und somit den Grund für das Ausboten der Mink vorzufinden.
Um überhaupt verstehen zu können, was diesen Harald Steiner zu dem Unikum und Ekel gemacht hatte, als welches er von vielen empfunden wurde, muss man sich mit seinem Werdegang beschäftigen.
Harald war das einzige Kind von Gernot und Maria Steiner. Seine Mutter war sehr früh an einer damals nicht heilbaren Krebserkrankung gestorben. Da war Harald erst acht Jahre alt gewesen. Sein Vater hatte sich als ein international anerkannter Philologe für antike Sprachen einen Namen gemacht. Gernot Steiner war berufsbedingt selten zuhause. Statt von ihm wurde Harald von einer eher puritanisch eingestellten Hauswirtschafterin erzogen und versorgt. So gingen ihm Disziplin, hierarchisches Bewusstsein, Gehorsam und eine spartanische Lebensweise ins Blut über.
Mit 19 hatte ihn dann trotzdem einer dieser typischen Anflüge Jugendlicher erfasst, gegen die ältere Generation zu opponieren. Auch wenn Gernot Steiner sich nur sehr wenig um seinen Sohn gekümmert hatte, erwartete er dennoch von ihm eine akademische Berufswahl. Harald tat ihm aus Trotz den Gefallen nicht und ging auf die Polizeischule, womit seine Karrieremöglichkeiten relativ begrenzt waren. Da Vater Steiner sich überraschend schnell damit abfand, machte Harald aus dem nun eingeschlagenen Weg das Beste und studierte, nach zwei Jahren Dienst bei der Streife geleistet zu haben, Kriminologie. Er war noch nicht ganz fertig mit seinem Studium, da erlitt Gernot einen Hirnschlag. Harald legte eine Pause ein, um seinen Vater zu pflegen.
Gernot Steiner verstarb nach wenigen Wochen an einem Rückfall, und Harald sah sich plötzlich in die Rolle eines wohlhabenden Erben versetzt. Das elterliche Haus, die finanziellen Rücklagen seines Vaters und dessen Beteiligungen an mehreren Betrieben hätten durchaus für den Sohn ausgereicht, sich mit 26 schon zur Ruhe setzen und ein Lotterdasein bis ans Ende seiner Tage fristen zu können.
Das entsprach nicht dem Charakter des jungen Mannes. Gewiss, seine Interessen seit frühester Kindheit hatten nie echt der Kriminologie gegolten. Er hätte eigentlich Historiker oder Archäologe werden wollen. Aber das war er ja nun aus Widerborstigkeit nicht geworden, und es hätte ihm nun wirklich widerstrebt, nochmals ein Studium zu beginnen, auch wenn er es sich mit dieser Erbschaft leisten konnte oder es sich sogar erlauben konnte, gar nichts mehr zu tun. Er hatte Bevormundungen immer gehasst. Er hasste Schulen, er hasste Lehrer, er hasste Besserwisser. Der Einzige, dem er je Respekt gezollt hatte, war sein Vater gewesen, wenn man von seiner Berufswahl absah, und ansonsten hatte er sich immer nur gefügt, wenn es sich nicht anders einrichten ließ.
Darüber hinaus hatte er sich auch schon als Kind ziemlich restriktiv gegenüber Gleichaltrigen verhalten. Die Jungs aus der Nachbarschaft und die Schulkameraden hatte er für kleine Kriecher gehalten, weil sie alle immer das machten, was Ältere von ihnen verlangten, jüngere Kinder für minderwertig, weil sie eben jünger waren, und Mädchen für eine absolut aus der Art geschlagene Spezies, weil sie mit Puppen spielten.
Er stellte die entscheidende Weiche für sein weiteres Leben, indem er sich mit dem Anwalt seines Vaters über die Verwendung der Erbmasse beriet. Der sollte das elterliche Haus, in Gummersbach, sämtliche Beteiligungen seines Vaters und den größten Teil der mobilen Werte möglichst teuer verflüssigen und den Erlös daraus zusammen mit den Guthaben seines Vaters einem gesonderten Konto zuführen. Harald wollte endgültig nach Köln ziehen und sich voll seiner Laufbahn als Kriminalbeamter widmen. Dabei legte er keinen Wert darauf, ein ausschweifendes oder üppiges Leben führen zu wollen. Sollte er als Kripobeamter versagen, hatte er dank seines Vermögens immer noch die Möglichkeit, seine Lebensplanung abzuändern. Aber lieber wollte er sich eben als Kriminalkommissar bewähren, und zwar in der Sparte der Morduntersuchung. Und worin er sich aus eigenem Antrieb einmal hinein hing, da blühte er auch prompt zu Höchstformen auf. Er machte also tatsächlich rasch Karriere bei der Kripo Köln. Aber wie entwickelte sich das mit seinem Verhältnis zum anderen Geschlecht?
Das entwickelte sich innerhalb von wenigen Jahren in einige sehr unterschiedliche Richtungen. In seiner Kindheit und frühen Jugend empfand er nur Verachtung für Mädchen. Das änderte sich bei ihm erst allmählich, als er in den Polizeidienst trat. Doch seine eher nach innen gekehrte Art machte ihn nicht besonders attraktiv für junge Frauen. Seine Beziehungen überdauerten selten mehr als eine Woche. Erst als er Kriminalkommissar geworden war, lief ihm Irene über den Weg. Irene schien sich nicht an seinen seltsamen Charakterzügen zu stören. Erst später sollte er erkennen, worum es ihr wirklich gegangen war: um sein Geld.
Irene war eine Tippse bei einem eher unbedeutenden Modedesigner gewesen. Als Harald auf sie abfuhr, weil sie zu seiner ersten dauerhaften Intimpartnerin geworden war, hatte sie ihm auch schon alsbald die Ehe nahegelegt. Leichtsinnigerweise war er darauf eingegangen.
Die Ehe erwies sich für ihn rasch als ein Fehlgriff. Irene konnte nicht kochen, Irene konnte keine Betten machen, Irene konnte nicht spülen, Irene konnte keine Waschmaschine bedienen, Irene konnte keine Steuererklärung machen, und Irene verlor schon rasch die Lust am Sex mit ihrem Mann. Ihr Standardsatz lautete: „Lass mich doch mit deinen Schweinereien in Ruhe“, wenn er sich mal wieder im Bett an sie ranzumachen versuchte. Umgekehrt ließ sie Eigenschaften erkennen, von denen Steiner nun wirklich vorher keine Ahnung hatte. Ihren Job warf Irene über Bord. Mit einem „reichen“ Mann, habe eine Ehefrau das nun wirklich nicht mehr nötig. Und Irene entpuppte sich als eine Shoppingqueen.
Harald hatte schnell die Nase voll von ihr und ihren Eigenarten. Er legte ihr die Scheidung nahe, und wie durch ein Wunder willigte sie auch überraschend schnell darin ein, als er ihr in Aussicht stellte, statt Unterhaltszahlungen, sie mit einer einmaligen Summe in Höhe von DM 360.000 abzufinden. Da er auf Anraten des früheren Anwalts seines Vaters bei der Eheschließung auf Gütertrennung bestanden hatte, hätte er Irene das bei Weitem nicht anzubieten brauchen. Doch er wollte sie auf jeden Fall so schnell wie möglich für immer von der Backe haben.
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