«Nur keine Angst vor Giftpilzen,» erklärte der Gast, «das von den Giftpilzen ist nämlich ein Märchen, es gibt überhaupt keine giftigen Pilze. Alle Pilze sind essbar, wenn man sie richtig zubereitet. Sogar der Fliegenpilz, übrigens in der Ukraine eine Delikatesse, und auch der so sehr zu Unrecht verteufelte Knollenblätterpilz, sind übrigens alle beide essbar.»
«Auch der Knollenblätterpilz?» zweifelte Antonio.
«Auch der ist absolut essbar,» dozierte Giacomo, «wenn du ihn richtig behandelst. Erstens darfst du ihn unter gar keinen Umständen waschen, sonst verändert sich das Pilzeiweiss zu einer absolut tödlichen Substanz, eben die allgemein bekannte. Dann, und das ist sehr wichtig, will er in einem guten trockenen Weisswein gekocht werden, niemals im Wasser, auf kleinstem Feuer geköchelt und dann gut abgetropft ins Rahmsösselchen, bis er richtig durch ist. Und ja kein Salz! Beim Essen muss man genügend Wein dazu trinken, denn der Wein neutralisiert eventuelle Giftteilchen. Vielleicht ist sogar in unserm Essen einer mit dabei. Also, Prosit und Gesundheit für uns alle, lasst uns nochmals anstossen.»
Carlo sagte ganz verstört: «Mach doch keine solch üblen Scherze, da geht der Spass zu weit.»
«Ich, üble Scherze machen?» sagte Giacomo beleidigt, «kennt ihr mich als einen, der über seriöse Dinge spottet? Bin ich ein Lügner, ein Angeber oder ein Kasperle? Nein, mein lieber Carlo, dieses Thema ist wirklich zu ernst, als dass man darüber Witze machen könnte; aber was ich euch über die Zubereitung der Pilze, aller Pilze übrigens, gesagt habe, das ist nun mal eine Tatsache, von mir selber erprobt.» Und in vertraulichem Ton fuhr er weiter: «Euch kann ich es ja ruhig sagen, dass ich die Pilze überhaupt nicht kenne, überhaupt nicht, denn es ist ja nach meiner Theorie auch unwichtig, weil die Giftigkeit der Pilze einzig und allein von der Zubereitung des Pilzgerichtes abhängig ist und wenn man da noch ein paar Tricklein kennt, so verwandelt sich der Knollenblätterpilz in eine wahre Gaumenfreude.»
Und mit geschlossenen Augen führte er sich eine Portion dieser Gaumenfreude zu Gemüte.
«Zudem,» fuhr er nach einer langen Kunstpause fort, «zudem ist statistisch einwandfrei bewiesen, dass die allermeisten Pilztoten nicht an Giftpilzen sterben, sondern an ganz einfachem Herzversagen, das heisst, sie sterben vor lauter Angst, sie hätten einen giftigen Pilz gegessen. Man nennt das in der Wissenschaft den psychosomatopathologischen Fungizid, also Tod durch pure Einbildung man hätte einen Giftpilz verschluckt. Interessant daran ist, dass die qualvollen Vergiftungserscheinungen absolut denen ähnlich sind, die bei echtem Nervengift auftreten, also etwa so, wie nach einem Glas Strychnin.»
Carlo, der bei all diesen Ausführungen käsebleich geworden war, wollte nun endlich Gewissheit haben über sein Schicksal und beschwor den Nachbarn, bei allen Heiligen und allem was ihm lieb und teuer sei, ehrlich zu sagen, ob er die Pilze kenne oder nicht.
Statt einer Antwort blickte dieser mit kindlicher Unschuldsmiene zur Decke, seufzte und hob dabei wie fragend die Schultern.
Als seine Frau merkte, dass die Stimmung auf einen absoluten Tiefpunkt gefallen war, begann sie zu lachen: «Ach Leute, ihr solltet den guten Giacomo doch allmählich kennen, der hat›'s doch faustdick hinter den Ohren. Der und keine Pilze kennen! Wir haben die halbe Stube voll Pilzbücher in denen er nächtelang schmökert, und was er alles weiss über Pilze, da könnte man gleich zwei professori draus machen.»
Giacomo wehrte sich vergebens, man war erleichtert, und als er noch sagte, sie sollten ja das Weintrinken nicht vergessen, falls sich mehr als ein Grüner in das Essen geschlichen hätte, da atmeten alle befreit auf.
Seine detaillierte Schilderung des Verlaufs einer Pilzvergiftung kam in den vom Wein schon etwas verwirrten Hirnen kaum mehr richtig an. Die Stimmung wurde immer heiterer, dass sogar Carlo seine anfängliche Furcht vor Pilzen zu verlieren schien.
Schliesslich fand man andere Gesprächsthemen und um Mitternacht verabschiedete man sich voneinander nach diesem gelungenen und fröhlichen Abend.
Der Alkoholgehalt im Blut der Männer hätte bei jedem problemlos für einen lebenslangen Führerscheinentzug gereicht, aber glücklicherweise konnte man die wenigen Meter bis zum heimischen Bett zu Fuss zurücklegen. Und sie standen eigentlich noch alle erstaunlich gut auf ihren Beinen, dank der hilfreichen Unterstützung der Ehefrauen.
Gegen zwei Uhr erwachte Carlo.
Es war ihm speiübel, sein Kopf schmerzte und er fühlte sich hundeelend.
Der Brechreiz wurde immer stärker.
Mühsam schleppte er sich zur Toilette.
Diese verdammte Sauferei . . . er ertrug einfach nichts . . . oder . . .
Schlagartig war er hellwach.
Pilzvergiftung!
Er spürte eine Beklemmung ums Herz.
Auf der Toilette übergab er sich. Pilze, Pilze! Grünlich leuchtende Pilze!
Es wurde ihm noch elender.
Oder war das alles nur Einbildung ?
Also nun mal schön langsam.
Diese Symptome, die waren wirklich abnormal, die konnten nur von einer Pilzvergiftung herrühren.
Würgen im Hals, rasendes Herzklopfen, eiskalte Stirn, kaum spürbarer Puls, sogenanntes Herzflattern, permanente Schwindelanfälle, schweres Krankheitsgefühl, Atemnot, Nierenstechen und verkrampfte Waden.
Alles genau so, wie Giacomo an Abend eine schwere Pilzvergiftung beschrieben hatte.
Kalte Schauer jagten durch seinen Körper, dann wurde ihm heiss, wieder dieses Würgen im Hals und wenn er sich bücken wollte, spürte er seine Sinne schwinden.
Auf allen Vieren kroch er den Korridor entlang zum Schlafzimmer seines Bruders.
Er horchte.
Gottseidank, die lebten noch.
Er überlegte, ob er sich das alles nur einbilde, ob er vielleicht zuviel getrunken habe.
Würgen im Hals, starke Schwindelgefühle, Wadenkrämpfe . . .
Da hörte er seinen Bruder stöhnen. Jetzt war alles klar.
Jetzt ging es um Minuten.
Er schlug Alarm.
Bruder samt Frau erschienen in der Tür, erschreckt, totenbleich, verstört.
Schliesslich brummte die Schwägerin etwas von vergogna, von der Schande, mehr zu saufen, als man vertragen könne. Aber Carlo röchelte: «Pilze … giftig ...giftig...Wadenkrämpfe habe ich schon und mein Herz rattert wie verrückt...ach, mir ist so übel, ich sterbe. Spürt ihr denn nichts? Wir müssen sofort ins Krankenhaus, Magen auspumpen, sonst sind wir morgen tot, ach Mamma mia, ich, ich muss sterben.»
Alberto war weiss wie ein Leichentuch und als er sich zu seinem Bruder niederbeugen wollte, spürte er es auch, dieses Würgen im Hals, diesen Brechreiz, den Schwindelanfall und die schwachen Knie.
Er tastete sich zur Toilette und übergab sich.
Carlo heulte los, wie ein kleines Kind, als er bemerkte, dass auch sein Bruder Todeskandidat war.
Albertos Frau wurde nun auch allmählich unsicher, und wenn sie ehrlich sein wollte, dann spürte auch sie diesen Druck auf dem Magen, eine Art Drehschwindel im Kopf, genau, wie es Giacomo beschrieben hatte. Und plötzlich kam die Panik auch über sie.
Nichts wie los ins Krankenhaus!
Sie rasten um ihr Leben, Alberto am Steuer, versteht sich, trotz schwindender Sehkraft und zittriger Glieder. Aber um diese Zeit sind glücklicherweise nur wenige Leute unterwegs, und so kamen sie unversehrt im Krankenhaus an.
Dem Notfallarzt war die Situation gleich klar, diese Menschenleben hingen nur noch an einem dünnen Fädelchen. Carlo fiel von einer Ohnmacht in die andere, Alberto fand das Magenauspumpen eklig und sehr unangenehm und benahm sich dabei sehr wehleidig.
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