Als sie fertig war, schaute sie auf die Uhr. Es war kurz nach zweiundzwanzig Uhr. Verwundert darüber, dass sie sich fast zwei Stunden mit ihrem Schrankinhalt beschäftigt hatte, starrte Amelie auf die Wäschetruhe. Der Klamottenstapel war nicht sehr groß. Gedanklich hängte sie zwei weitere Outfits zurück in den Schrank. Es blieben vier übrig. Mit jeder Sekunde, die sie damit verbrachte, sich zu entscheiden, schrumpfte die Chance, eines der Stücke am Samstag zu tragen.
Amelie überlegte, ob sie Rike noch anrufen konnte. Sie entschied sich, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Sie schlürfte ins Wohnzimmer, griff nach ihrem Handy, das auf dem Tisch lag, und rief ihre Freundin an. Es dauerte eine Weile, bis sie sich meldete. »Ja.« Ihre Stimme klang erschöpft.
»Habe ich dich geweckt?«, fragte Amelie verlegen.
»Nein, nein. Was gibt es denn?«
»Ich wurde für Samstag gebucht. Du musst mir helfen! Ich weiß nicht, was ich anziehen und wie ich mich verhalten soll.«
»Ganz ruhig, Amelie. Hol erst mal tief Luft! Es wird alles gut«, beschwichtigte Rike ihre aufgedrehte Freundin.
»Du hast gut reden«, wehrte Amelie sich. »Also, was ist? Hilfst du mir, oder nicht?«
»Klar, aber das hat doch bestimmt noch bis morgen nach der Arbeit Zeit, oder?«
»Ja, sicher«, antwortete Amelie verlegen. Nun war es ihr etwas peinlich, ihre Freundin um diese Uhrzeit angerufen zu haben. Das Problem mit den Klamotten wirkte auf einmal so unwichtig. »Es tut mir leid! Wir sehen uns morgen«, sagte sie hastig und legte auf.
Freitag, 23.09.16, 19:17 Uhr
»Schau mal, das sieht doch gut aus«, sagte Rike und hielt ein rotes Kleid in den Händen.
»Nein, das ist es nicht! Ich muss zu einem Geschäftsessen. Das sieht mehr nach Disco aus.«
»Auch bei einem Geschäftsessen kann man gut aussehen.«
»Nee, ich will lieber etwas …«
»Spießiges?«
»Nenn es, wie du willst, aber rot und freizügig geht gar nicht.«
»Ich verstehe. Es muss schwarz sein und von Kopf bis Fuß geschlossen, damit man ja keine Haut sieht!«
»So ungefähr.«
»Wie wäre es denn mit dem hier?«
»Das gefällt mir.«
Rike schaute ihre Kollegin verwundert an. Sie hätte nicht damit gerechnet, dass Amelie das Kleid gefallen könnte und nichts zu nörgeln hatte. Bei allen Vorschlägen, die Rike machte, hatte sie etwas auszusetzen.
»Probier es an!«
Amelie kam näher, nahm ihrer Freundin das Kleid ab und machte Anstalten in die Umkleidekabine zu gehen. Als ihr das Preisschild ins Auge fiel, blieb sie abrupt stehen.
»Was ist denn nun wieder?«, fragte Rike und rollte mit den Augen.
»Hast du den Preis gesehen? Das Teil kostet dreihundert Euro. Das ist ja fast mehr, als ich an dem Abend verdiene. Das kann ich mir nicht leisten!«
»Wieso? Du kannst es dafür mehrfach tragen!«
»So macht das für mich keinen Sinn! Ich zwinge mich, das Ganze durchzuziehen, um meine Schulden abzuzahlen. Wenn aber nicht ein Cent übrig bleibt, ist es vollkommen sinnlos«, sagte Amelie leise und schaute in alle Richtungen, um sicherzugehen, dass sie niemand gehört hatte.
»Jetzt stell dich nicht so an und probiere es erst mal! Wenn es dir passt, bezahle ich es dir.«
»Nein! Das will ich nicht! Ich kann von dir keine so teuren Geschenke annehmen!«
»Das ist auch kein Geschenk. Sieh es eher als Leihgabe. Irgendwann hole ich es mir zurück oder du gibst mir das Geld, wenn es dir finanziell besser geht.«
»Bezahlen? Niemals! Du kannst es aber gern zurückhaben!«
»Das soll mir recht sein«, antwortete Rike und schob ihre Freundin zu den Umkleidekabinen.
Amelie verschwand in einer von ihnen und kam nach kurzer Zeit umgezogen raus.
Rike blieb der Atem für eine Sekunde stehen, als sie Amelie sah. Das Kleid saß an ihr, als wurde es nur für sie gemacht. »Wow, das nimmst du!«
»Okay, wenn du meinst.« Amelie sträubte sich nun nicht mehr gegen Rikes edle Spende. Sie fühlte sich so wohl in dem Kleid und wollte es unbedingt haben. Inzwischen wäre sie sogar bereit gewesen, das Geld abzustottern, wenn es sein musste.
»Ja, definitiv. Jetzt fehlen nur noch ein paar heiße Treter«, sagte Rike.
»Hm.«
»Oder hast du schon Schuhe, die dazu passen?«
»Keine Ahnung, da müsste ich mal schauen.«
»Also nicht. Dann geht es jetzt zur Kasse und dann in einen Schuhladen!«
Amelie nickte, eilte in die Kabine und zog sich um.
Als die beiden Frauen an der Kasse standen und Rike das Kleid bezahlte, fiel ein Stein von Amelies Herzen. Sie umarmte ihre Freundin vor allen Leuten. Rike war es ein bisschen unangenehm, dass die anderen Kunden sie anstarrten. Amelie bekam davon nichts mit.
Samstag, 24.09.16, 15:37 Uhr
Voller Anspannung lief Amelie auf und ab. Sie musste sich zusammenreißen, nicht an ihren Nägeln zu kauen. In vier Stunden hatte sie ihren ersten Kundentermin. Sie fürchtete sich vor dem Augenblick des Aufeinandertreffens. In diesem Moment war es für sie aber noch schlimmer, dass Rike nicht da war. Ihre Freundin hatte ihr versprochen, halb vier bei ihr zu sein. Inzwischen war sie ein paar Minuten überfällig. Das passte nicht zu ihr. Normalerweise war sie die Zuverlässigkeit in Person. Sie kam eher viel zu früh, als zu spät.
Amelie befürchtete, Rike könnte sie vergessen haben und würde nicht mehr kommen. Das hieße, Amelie musste sich für ihren ersten Auftrag alleine zurechtmachen. Normalerweise war es kein Problem für sie, sich selbst zu stylen, aber an diesem Tag war sie viel zu aufgeregt. Außerdem wusste sie nicht, wie sie sich für solch einen Anlass herrichten sollte. Sie hatte zwar das Kleid, das Rike ihr gekauft hatte, ihr fehlte aber eine Idee, wie sie ihr Haar tragen und sich schminken sollte.
Bisher nahm sie noch nie an einem Geschäftsessen teil. So weit sie zurückdenken konnte, war sie in ihrem Leben vielleicht zwei bis drei Mal in einem Restaurant gewesen. Ihre Eltern hatten nicht viel Geld. Es reichte nie, um essen zu gehen. Restaurantbesuche ergaben sich nur, wenn jemand aus der Familie starb. Dann fand der Leichenschmaus meist in einer kleinen Gaststätte statt. Diese Lokale waren aber kaum mit dem zu vergleichen, das Amelie an diesem Tag besuchen sollte.
Ein annähernd vergleichbares Restaurant hatte sie nur einmal besucht. Das war vor Jahren, als sie Erik kennenlernte. Er führte sie bei ihrem zweiten Date in einen hochpreisigen Laden aus. Für Amelie war es ein bisschen zu viel. Sie fühlte sich dort unwohl, beinahe wie in einer anderen Welt. Die Kellner verhielten sich so komisch, sie hatten etwas Aufdringliches. Auch die Essensportionen waren ungewöhnlich. Sie verstand nicht, wie man für so wenig Essen so einen Haufen Geld ausgeben konnte.
Amelie befürchtete, auch an diesem Abend wieder in so einem Laden zu enden. Sie war entschlossen, sich den Bauch vollzuschlagen, bevor sie das Haus verließ. Sie wusste, sie würde vor Aufregung kaum etwas hinunter bekommen, aber sie musste es versuchen, um später nicht hungrig zu sein.
Amelie zuckte zusammen, als es klingelte. In Strümpfen sprintete sie zur Wohnungstür und rutschte dabei fast aus. »Na endlich!«, begrüßte sie ihre Freundin Rike.
»Entschuldige! Ich musste Joshua noch zu meiner Mutter bringen und ausgerechnet heute wollte er nicht bei ihr bleiben. Es hat ewig gedauert, ihn zu beruhigen.«
»Ja, ja. Schon gut. Ich bin so froh, dass du überhaupt gekommen bist«, sagte Amelie und umarmte ihre Freundin.
»Gut, dann legen wir los.«
»Was machen wir zuerst?«
»Gesicht, Umziehen, Haare!«
»Okay.«
»Kann ich mich dann auch bei dir zurechtmachen?«
»Natürlich. Hast du heute auch noch einen Kunden?«
»Ja, einen Stammkunden, der mich fast jedes Wochenende bucht.«
Читать дальше