»Amelie, du sollst ja nicht nur für die Schulden arbeiten gehen. Mit dem Geld kannst du dir eine Menge leisten und musst nicht mehr in dieser Absteige wohnen!«
»Was?«, rief Amelie und sah ihre Arbeitskollegin fragend an. Die beiden Frauen kannten sich erst seit einem halben Jahr. Amelie war nach der Trennung von Erik auf Arbeitssuche gewesen und bewarb sich in dem Supermarkt, in dem Rike schon seit fünf Jahren arbeitete. Als sie die Zusage bekam, war sie erleichtert. Sie hatte keine abgeschlossene Lehre und war froh, ihr eigenes Geld verdienen zu können.
Zu Rike hatte sie von Anfang an ein gutes Verhältnis. Es war so, als würden sich die Frauen seit Jahren kennen. Die anderen Kollegen waren auch nett, aber keiner war Amelie so vertraut wie Rike.
»Niemand weiß davon, aber ich arbeite auch noch nebenbei!«
»Wirklich? Wann denn?«
»An den Wochenenden. Was glaubst du, wie ich sonst als Alleinerziehende über die Runden komme?«
»Und was machst du?«
»Ich arbeite für einen Escortservice.«
»Du machst was? Steigst du etwa mit wildfremden Männern ins Bett?«
»Klar, wenn sie mir gefallen.«
»Das ist nicht dein Ernst!« Amelie konnte nicht fassen, was Rike ihr da erzählte. Sie traute ihrer Freundin einiges zu, aber dass sie sich mit wildfremden Männern traf und mit einigen davon schlief, damit hätte sie nie gerechnet.
»Warum nicht?«, fragte Rike und lächelte.
»Nein! Du denkst jetzt nicht, dass ich mit fremden Männern durch die Betten hüpfe, oder?«, antwortete Amelie irritiert. Bei dem Gedanken wurde sie kreidebleich.
»Was spricht dagegen? Du bist Single und kannst tun und lassen, was du willst. Dich zwingt niemand mit jemandem zu schlafen, den du nicht magst. Du gehst einfach mit den Männern aus, leistest ihnen Gesellschaft und wirst dafür bezahlt. Das ist alles. Leichter kannst du dein Geld nicht verdienen!«
»Die erwarten doch sicher mehr für ihr Geld!«
»Nein! Du hast nur Sex, wenn du es auch willst. Wenn nicht, dann lässt du es sein.«
»Und nur fürs Ausgehen soll ich so gut bezahlt werden? Wo ist der Haken?«
»Es gibt keinen. Der Verdienst ist eben spitzenmäßig.«
»Echt? Das kann ich gar nicht glauben!«
»Es ist aber so. Ich arbeite schon seit drei Jahren für die Agentur und bessere mir so die Haushaltskasse auf.«
»Wenn es wirklich so toll ist, wie du sagst, warum arbeitest du dann noch im Supermarkt?«
»Weil es einfacher ist zu sagen, man arbeitet als Verkäuferin. Oder würdest du jedem erzählen wollen, dass du als Escortlady dein Geld verdienst? Außerdem kann man den Job nicht ewig machen. Irgendwann ist man zu alt dafür. Also braucht man noch ein solides Standbein.«
»Aha. Was machst du mit Joshua, wenn du arbeiten bist?«
»Er ist bei meiner Mutter.«
»Weiß sie davon?«
»Nicht direkt. Sie denkt, ich gehe kellnern.«
»Oh je, wenn das rauskommt …«
»Also, was ist? Soll ich dich mit zur Agentur nehmen, oder nicht? Es ist deine Chance, dich finanziell zu verbessern.«
»Nein, das ist nichts für mich! Ich muss mir wohl einen anderen Job suchen, um die Schulden abzahlen zu können«, seufzte Amelie.
»Du kannst ja noch eine Nacht darüber schlafen. Wir können auch morgen nach der Arbeit zur Agentur fahren. Dann kannst du dir alles anschauen und ich stelle dir Stella, die Agenturchefin, vor. Das wird deine Entscheidung sicher erleichtern. Jetzt muss ich aber los, Joshua wartet. Denk dran, zu niemandem ein Wort! Das ist unser kleines Geheimnis«, sagte Rike grinsend. Sie stupste ihre Freundin an und verließ die Wohnung.
Amelie blieb alleine zurück. Sie stand wie angewurzelt in ihrer Küche und war unsicher, ob dies wirklich geschah oder sie sich das Gespräch mit Rike nur eingebildet hatte.
Freitag, 09.09.16, 16:05 Uhr
»Okay, los geht`s«, rief Rike ihrer Kollegin zu, als beide Frauen auf dem Parkplatz standen. »Es ist offen. Du kannst ruhig einsteigen!«
Amelie stand unsicher vor dem kleinen grünen Flitzer. Ihr war anzusehen, wie unwohl sie sich fühlte. Sie war blass und ihre Knie zitterten. Es fiel ihr schwer, sich auf den Beinen zu halten.
»Husch, husch, einsteigen!«, forderte Rike sie ein weiteres Mal auf.
Amelie griff widerwillig nach dem Türgriff und öffnete die Tür. Sie stieg ein und schnallte sich an.
Rike nahm neben ihr Platz, steckte den Zündschlüssel ins Schloss und drehte das Radio auf. Bevor sie vom Supermarktparkplatz fuhr, legte sie sich den Gurt an. Gut gelaunt summte sie während der Fahrt zur Agentur bei jedem Lied mit.
Amelie konnte sich nicht auf die viel zu laute Musik konzentrieren und war genervt. Doch sie hielt sich zurück. Ihre Angst, vor dem, was an diesem Tag kommen sollte, war zu groß. Noch immer fehlte ihr die Vorstellungskraft mit wildfremden Männern auszugehen, und erst recht mit ihnen intim zu werden. Am gestrigen Abend, nachdem Rike ihr von ihrem kleinen Geheimnis erzählt hatte, versuchte sie permanent sich vorzustellen, wie sie mit irgendwelchen Kerlen ausging. Sogar in ihren Träumen wurde sie davon verfolgt. Dort wollten die Männer aber mit ihr ins Bett und Amelie schaffte es nicht, sich die Typen vom Leib zu halten. Zum Glück wachte sie jedes Mal auf, bevor es zur Sache ging.
Auch an diesem Tag konnte sie es nicht fassen, dass ihre hübsche Freundin Rike, die sie meinte, gut einschätzen zu können, mit fremden Kerlen ausging und mit einigen davon sogar schlief. Es erklärte aber, warum sie immer genügend Geld in der Tasche hatte und sich mehr leisten konnte. Amelie hatte sich schon oft gefragt, wie sie es machte. Am Ende kam sie zu dem Entschluss, ihre Kollegin bekäme ein besseres Gehalt, weil sie im Gegensatz zu ihr eine abgeschlossene Ausbildung hatte.
»Wir sind gleich da«, sagte Rike, als sie in eine Seitenstraße einbog.
Amelie schaute sich um. Die Gegend war ihr fremd. Obwohl sie schon eine Weile in der Stadt lebte, war sie noch nie hier gewesen. Die Stille in der Straße machte ihr Angst. Kein einziger Mensch war zu sehen. Nervös kaute sie an ihren Fingernägeln, so wie sie es immer tat, wenn sie vor Aufregung platzen könnte.
»Du sollst nicht ständig an den Nägeln kauen!«, ermahnte Rike sie, so wie sie es jedes Mal tat, wenn sie ihre Kollegin beim Nägelkauen erwischte.
Amelie zuckte zusammen und ließ von dem Nagel ab, den sie gerade in Bearbeitung hatte.
Rike bog auf einen Hinterhof ein und brachte ihren grünen Kleinwagen zum Stillstand. »Wir sind da!«
Amelie sah sich um. Sie konnte nicht glauben, dass in so einer Gegend eine Escortagentur ihren Sitz haben sollte. Es war ihr ungeheuer. Das Gebäude, vor dem sie parkten, strahlte nichts Seriöses aus. Amelie erinnerte alles an das Rotlichtmilieu. Ihre Panik wurde größer. Umso länger sie darüber nachdachte, desto sicherer wurde sie, vor einem Bordell zu stehen, in dem sie nicht arbeiten wollte.
Rike schnallte sich ab und öffnete die Tür. »Los, aussteigen!«
Amelie klammerte sich an ihrem Gurt fest und machte keine Anstalten das Fahrzeug zu verlassen. Sie bereute es, sich von Rike zu diesem Termin überreden zu lassen. Ihre Freundin hatte so eine Art an sich, Menschen so lange zu nerven, bis sie ihren Willen bekam. Normalerweise wäre Amelie ihr aus dem Weg gegangen, bis sie sich beruhigt hätte, da die beiden Frauen aber zusammenarbeiteten, ging das nicht. Amelie war ihrer Freundin samt ihrer Überredungskünste den ganzen Tag im Supermarkt ausgeliefert. Irgendwann konnte sie es nicht mehr hören und sagte zu.
»Was ist denn los?«
»Hier soll eine Escortagentur sein?«, fragte sie mit zittriger Stimme.
»Ja. Ich weiß, die Gegend macht nicht gerade den besten Eindruck, aber die Agentur ist seriös. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen!«
Mit ernster Miene schaute Amelie ihre Freundin an. »Bist du dir sicher?«
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