Amelie gab ihrer Freundin das Stück Papier und ging zu Pit. Er gefiel ihr. Das konnte sie nicht verbergen. Ihre Wangen liefen rot an. Es war ihr unheimlich peinlich, aber sie versuchte, sich zusammenzureißen.
»Hier sind ein paar Klamotten, such dir aus, was du willst!«, sagte Pit und zeigte auf einen Kleiderständer.
Amelie wühlte sich durch die Kleidungsstücke. Sie hatte den Eindruck, jedes Teil bestünde aus einem Hauch von Nichts. Sie wusste nicht, für was sie sich entscheiden sollte. Es traf alles nicht annähernd ihren Geschmack.
»Klara, kannst du kurz rüberkommen? Wir brauchen dich für ein Mal Make-up«, sprach Pit ins Telefon.
Amelie sah sich zu ihm um, als seine Stimme ertönte. Sie war so in die Klamotten vertieft, dass sie nicht mitbekam, wie Pit zum Hörer gegriffen hatte.
»Gut«, sagte er und legte auf. »Und hast du dich schon entschieden?«
»Ja, ich nehme das!«, antwortete Amelie und deutete auf die schwarze Hotpants, die zusammen mit dem silbernen Top auf einem Bügel hing. Das Outfit war genauso knapp wie die anderen, dennoch wirkte es auf sie am wenigsten schlüpfrig.
»Alles klar. Dann kannst du dich hinter der Trennwand dort schon umziehen!«, forderte Pit sie auf und zeigte auf die Wand, die hinter dem Kleiderständer aufgebaut war.
Amelie verschwand dahinter und kam wenig später umgezogen mit verschränkten Armen hervor. Sie fühlte sich nackt.
»Wow, du siehst heiß aus!«, grölte Rike, die von dem Fragebogen aufsah.
»Das ist Klara. Sie wird dich jetzt schminken und dann kann es losgehen«, sagte Pit, als eine blasse magere Frau den Raum betrat, und widmete sich seiner Kamera.
»Hallo!«, sagte Amelie schüchtern.
»Hi! Dann wollen wir mal, was?«, antwortete die zierliche Gestalt und lächelte.
Nach einigen Minuten sagte Klara voller Stolz: »Fertig!« Sie hielt ihrem Modell einen Spiegel hin. Amelie nahm ihn und schaute sich an. Die Frau, die sie darin sah, kam ihr bekannt vor und doch war sie ihr gleichzeitig fremd. So hatte sie sich noch nie zuvor gesehen. Sie schminkte sich zwar auch täglich, aber niemals so, dass sie sich selbst nicht mehr erkannte. Für sie musste es dezent sein.
»Dann kann es ja losgehen!«, sagte Pit. »Stell dich dort vor die Leinwand!«
Amelie gehorchte und ging zur Leinwand. Pit diktierte ihr die Posen, in denen er sie fotografierte. Sie gab sich Mühe, seinen Aufforderungen nachzukommen. Dabei stellte sie sich vor, er sei ihr erster Kunde. In ihrer Fantasie gingen sie erst ganz romantisch essen und fielen anschließend übereinander her. Amelie musste grinsen. Ihre Wangen glühten.
»Klara kannst du ihre Wangen abpudern!«, rief Pit.
Die Visagistin kam sofort angelaufen und kam der Aufforderung des Fotografen nach. Amelie war es peinlich. Sie hatte das Gefühl, jeder hatte ihre Gedanken gelesen. Sie versuchte, sich zusammenzureißen und sich nur auf das Shooting zu konzentrieren. Von Pit würde sie in der Nacht träumen. Da war sie sich sicher.
Als Klara fertig war und sich zurückzog, machte Pit weitere Ansagen für neue Posen. Amelie gab sich Mühe, alles korrekt umzusetzen. Mit jeder Minute machte ihr das Fotoshooting mehr Spaß.
»Gut, wir sind fertig!«, sagte Pit und ging mit seiner Kamera zu dem Schreibtisch, der sich vorn in der Ecke befand.
Amelie blieb verloren vor der Leinwand zurück. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Dann kam Rike zu ihr. »Na, wie war`s?«
»Super. Es hat wirklich Spaß gemacht.«
Rike lächelte. »Ja, das war dir anzusehen.«
»Wirklich?«
»Ja, du hast glücklich ausgesehen. Ziehst du dich jetzt um, damit wir fahren können? Vorher müssen wir das Formular noch zu Stella bringen«, sagte Rike und hielt den Zettel hoch.
Amelie riss ihr das Stück Papier aus den Händen und las sich die Antworten durch. »Gloria? Das ist nicht dein Ernst?«
»Warum denn nicht? Willst du etwa deinen Namen behalten? Wir haben alle einen Künstlernamen.«
»Ach ja, wie ist deiner?«
»Viktoria.«
Amelie lachte.
»Hör auf zu lachen! Ich mag den Namen. Zieh dich lieber um!«
Amelie lief lachend hinter die Trennwand und zog sich um. Als sie zurückkam, sagte sie: »Meinst du wirklich, ich sehe aus wie eine Gloria?«
»Ob du so aussiehst, ist doch egal. Ich finde den Namen gut.«
»Na schön, wenn du meinst.«
»Geht doch!«, sagte Rike grinsend.
Beide Frauen gingen zurück zu Stellas Büro und händigten ihr das Datenblatt aus. Die Agenturchefin versicherte, Gloria noch am selben Tag in die Kartei aufzunehmen.
Donnerstag, 22.09.16, 20:01 Uhr
»Wirklich? Wann?«, hauchte Amelie mit zittriger Stimme ins Telefon.
»Am Samstag um zwanzig Uhr.«
»Okay«, antwortete sie und legte panisch auf.
Seit zwei Wochen war sie in der Kartei der Escortagentur aufgenommen und es hatte sich niemand gemeldet. An diesem Tag ging ihr erster Auftrag ein. Amelie sollte die Begleitung für ein Geschäftsessen sein. Sie hatte Angst davor, was sie erwarten könnte. Bis zu dem Tag hatte sie die leise Hoffnung, nie gebucht zu werden, weil sie keiner mochte.
In ihren Tagträumen malte sie sich ständig aus, wie sie erst mit den Männern ausging und dann mit ihnen schlief. Sie hatte keinen Spaß daran, außer mit Pit. Am liebsten hätte sie permanent von dem gut aussehenden Fotografen geträumt, davon wie sie mit ihm zusammen war.
Die Verkäuferin konnte sich nicht vorstellen, dass der Mann, der sie gebucht hatte, nur halb so attraktiv war wie Pit. In ihrer Fantasie waren die Männer, die Frauen buchten dick, alt und glatzköpfig. Mit so einem Kerl wollte Amelie für kein Geld der Welt intim werden.
Am liebsten hätte sie die Buchung abgesagt, oder besser erst gar nicht angenommen, aber sie brauchte das Geld. Maier hatte sie vor ein paar Tagen angerufen und an die Ratenzahlung erinnert. Sie wollte diesen Typen schnellstens los werden.
Amelie hatte noch zwei Tage Zeit, um sich auf das Essen vorzubereiten. Sie wusste aber nicht, wie sie das anstellen sollte. Ihr fehlte die Erfahrung. Sicher hatte sie in der Vergangenheit einige Dates gehabt, aber das war schon lange her. Seit sie mit Erik zusammen war, ging sie nicht mehr aus. Nach der Trennung behielt sie das bei. Amelie verließ nur das Haus, wenn sie zur Arbeit musste oder anderen Verpflichtungen nachging, die außerhalb ihrer Wohnung stattfanden.
Sie schaute auf die Uhr. Es war kurz nach zwanzig Uhr. Sie wollte Rike anrufen, aber sie wusste, ihre Kollegin brachte um diese Zeit Joshua ins Bett. Vor einundzwanzig Uhr schaffte sie es selten, zu telefonieren.
Amelie musste warten. Um sich abzulenken, schaltete sie den Fernseher ein und zappte sich durch das Programm. Es lief nichts, was ihr gefiel, aber das ahnte sie schon vorher. In den letzten Jahren wurde das Fernsehprogramm immer schlechter. Deshalb schaute sie kaum noch fern. Ihr altes Röhrengerät diente viel mehr als Dekoration, damit ihr Fernsehschrank nicht so leer aussah.
Amelie ging in die Küche und öffnete den Kühlschrank, um festzustellen, dass er gähnend leer war. Sie hatte vergessen, einzukaufen. Also schloss sie ihn wieder und öffnete das Brotfach. Es waren noch zwei Scheiben Brot darin, die sie rausnahm und trocken aß.
Sie ging zurück ins Wohnzimmer und schaute auf die Uhr. Es waren noch keine zehn Minuten vergangen. Amelie brauchte dringend Ablenkung. Sie überlegte, was sie tun konnte und bekam kurz darauf eine Idee. Bevor sie herumsaß und Löcher in die Decke starrte, wollte sie sich ihren Kleiderschrank vornehmen und schauen, ob sie etwas für Samstag zum Anziehen fand.
Sie ging in ihr Schlafzimmer und plünderte den Schrank. Den gesamten Inhalt warf sie auf das Bett und schaute sich anschließend jedes Stück ausgiebig an. Alle Outfits, die infrage kamen, stapelte sie auf ihrer Wäschetruhe. Der Rest wanderte zurück in den Kleiderschrank.
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