Lutz sah mich dann ungläubig an, als seien dies merkwürdige Fragen und lenkte ab: „Kommt ein Hase in die Wirtschaft und sagt: »Ein Jägerschnitzel bitte!«“
Ich musste zwar über diesen furztrockenen Witz lachen, ließ aber nicht locker. Das Ergebnis meiner Nachforscherei war stets das Gleiche. Lutz wollte sich Zeit zum Überlegen lassen und noch keine Antworten geben. War auch in Ordnung für mich. Erst gegen Ende seines Aufenthaltes hätte ich halt gerne eine Antwort, sagte ich ihm; hätte dann gerne gewusst, wie er sich seine Zukunft vorstelle, schließlich sei er schon zweiundzwanzig. Dann stöhnte Lutz hörbar auf und strafte mich mit einem kopfschüttelnden Blick.
Mein Trost bestand in der erwarteten Ankunft von Jan. Er würde mich gewiss entlasten und könnte sich vernünftig und zielführend mit Lutz unterhalten. Jan war Zweiunddreißig und auch für mich eine Respektsperson auf Augenhöhe, schließlich hatte Jan bereits seinen Doktor und war einer von der superklugen Sorte. Von ihm konnte ich noch lernen. Vielleicht könnte auch Lutz von ihm und seinen Ideen profitieren.
Zwei Wochen später holten wir Jan am Airport vom selben Arrival-point ab, wo zuvor Lutz und Emma auf mich gewartet hatten. Die Wiedersehensfreude mit meinem Arbeitskumpel aus WZB-Zeiten war groß. Lutz und Jan kannten sich nur vom Hören-Sagen. Jetzt lernten sie sich kennen, und es passierte, was ich erhofft hatte: Jan setzte sich mit Lutz und seinen jugendlichen Flausen auseinander, was Lutz erstaunlicherweise besser auf- und annahm als bei mir. Aber konnte mich das wirklich wundern? War es nicht fast immer so, dass die nächststehenden Personen eher als Puffer für sämtliche Unausgegorenheiten herhalten mussten und die Ernsthaftigkeit von Vorschlägen eher von völlig Fremden angenommen wurde?
Ich hatte mir für die kommenden drei Wochen frei genommen. Meine Nachbarn freuten sich über meine Besucher und schleppten uns gleich nach Jans Ankunft zu verschiedenen punkigen Kunstveranstaltungen. Wieder mal ging es um einen Film, den sie drehten. Die neue Künstlergruppe, mit denen sie jetzt gemeinsam einen Punk-Film drehten, nannte sich »The Kino Kommando 1« – ich vermutete, dass die Verdeutschung mir, ihrem Aushänge-German, geschuldet war. Drehort war ein Beauty Salon.
Vicky, die im Alter von Lutz war, überreichte uns zum Abendessen eine Einladungskarte: „We are shooting a film in a special location with special people. Please come ON THE HILL, 1916 Hyde Street. We need new actors. We need you.“
Lutz fand Vicky und ihre Dreier-WG aufregend. Er war hellbegeistert über die Einladung. Jan gestand mir in einem unauffälligen Moment, er fühle sich eigentlich zu alt für solche Albernheiten.
Ich beschwichtigte ihn mit den Worten: „Kunst ist Kunst und nicht Wurscht. Wir sind doch alle Lebenskünstler, oder?“
Zirka zwanzig Mitwirkende bekamen verschiedene Rollen zugeteilt. Das Drehbuch war echt verrückt und aus meiner Sicht völlig wirr, der Inhalt nur spekulativ zu erraten: Es ging um Beziehungen und Seitensprünge und um die bürgerliche Doppelmoral.
Das Ende vom Lied, also das Ende unseres Besuches bei diesem Dreh war, dass wir drei mit Punkfrisuren versehen wurden und Liebschaften mit einer Friseurin spielen mussten. Erst erkannte ich sie nicht, dann aber knutschte ich sie wirklich aus vollem Herzen –meine Friseurin wurde von Mary gespielt.
Am nächsten Tag brachen wir drei Jungs zu unserer großen dreiwöchigen Reise auf. Als erstes nahm ich wieder den am Pazifik entlang führenden Highway No. 1, mit dem ich bereits mit Mary nach L.A. gedüst war. Wir machten an all den schönen Orten Rast, an denen Mary und ich ein paar Wochen zuvor bereits gewesen waren. Es waren ja auch typisch touristische Orte.
In Los Angeles durfte ich mit meinen zwei Gästen wieder bei Anne und Mike übernachten. Mike lud uns diesmal sogar in sein heiliges Musikstudio ein und ließ uns einen Song aufnehmen, irgendeinen dieser robusten Country Songs. Am Morgen gingen wir zum Beach von Santa Monica, wo sich weiße, braune und schwarze Männerkörper gegenseitig mit ihren stählern-muskulösen Reizen übertrumpften. Noch immer knallte die Sonne vom blauen Oktoberhimmel. Aufreizend und knappest bekleidete Girls fuhren Rollerskate, verfolgt von den dahinschmelzenden Muskelprotzen, die aussahen wie gegrillte Hähnchen und um die Aufmerksamkeit der weiblichen und männlichen Schönheiten balzten. Ein rasant dahingleitendes Spiel der Geschlechter vor dem Hintergrund blau-grüner Wellen des pazifischen Ozeans und eines blütenweißen Strandes.
Ich entdeckte eine rote Telefonzelle, und während Jan und Lutz mit offenen Mündern der sexuellen Dauershow am Strand von Santa Monica zuschauten, suchte ich in L.A.‘s Telefonbuch eine x-beliebige Telefonnummer des IBM-Konzerns heraus, meldete mich bei der Telefongesellschaft und bat um ein kostenfreies R-Gespräch mit Doro. Ich schilderte ihr in Kürze meine Eindrücke von den Protokollen und ermutigte sie, diese in ihrer Diplomarbeit zu verwenden. Bei Bedarf könne ich auch dazu schriftliche Kommentare verfassen. Doch Doro fand, das sei nicht nötig, meine Eindrücke genügten ihr.
Dann erzählte sie mir, sie sei mit ihrem Freund Heiner im Bonner Hofgarten gewesen. Dort hätten 100.000 Menschen gegen die hochriskante Kernenergienutzung demonstriert. „Der verheerende Atomunfall in Harrisburg ist ja erst ein paar Monate her“, sagte Doro. „Das hat wohl viele Leute zum Nachdenken gebracht. Dass immer erst etwas Schreckliches passieren muss, bevor die Menschheit lernt – schlimm!“
Ich erzählte ihr, dass ich mit Jan und Lutz auf großer Reise war.
„Wohin geht es?“
„Wir sind jetzt in L.A. bei Anne und Mike. Im Moment telefoniere ich vom Strand von Santa Monica aus; viel los hier, sonniges Wetter, es ist warm und alle Welt scheint Bike und Rollerblades zu fahren. Es gibt sogar Kneipen, in denen balancieren die Service-Girls mit Tabletts, beladen mit haushohen Burger, per Rollerblades durch den Laden.“
„Das gibt’s dann hier bei uns wohl auch, allerdings mit vier, fünf Jahren Verzögerung. Und ihr? Wollt ihr noch zum Grand Canyon?“
„Sure. Aber wir besuchen erst einmal Hollywood und die Studios. Der Kleine will natürlich noch zum Disneyland Resort nach Anaheim.“
„Hör endlich auf mit »der Kleine«! Lutz ist ein erwachsener junger Mann.“
„Waren wir mit zweiundzwanzig schon …“
„Verplempere bitte nicht unsere Telefonzeit mit unnötigen Rückblicken. Sag mir lieber, wohin ihr geht, wenn ihr mit Disneyland fertig seid.“
„Von dort fahren wir über den Highway 15 nach Las Vegas, fordern unser Spieler-Glück heraus, besuchen die Schwester von Amy, meiner früheren Liebe, denn Jamie arbeitet dort als Tänzerin und …“
„Hör mir auf mit Amy und ihrer Schwester Jamie! Damit hast du mich früher schon immer eifersüchtig gemacht.“
„Blödsinn“, sagte ich. „Das war jedenfalls nicht meine Absicht.“
Doro und ich mussten lachen. Amy und Jamie, das war uralte Vergangenheit. Aber sie holte mich hier in den Staaten gerade ein.
„Okay, schon gut. Und wie geht eure Rundreise weiter?“
„Wenn wir in Las Vegas beim Glücksspiel ein paar Milliönchen gewinnen, machen wir wahrscheinlich eine Weltreise. Wenn nicht, dann geht’s erstmal zum Grand Canyon, danach ins Death Valley und über den Yosemite Nationalpark zurück nach Frisco.“
Am nächsten Tag setzte mich Jan bei Professor Borko am »Institute of Information« ab und fuhr mit Lutz weiter ins Disneyland Resort nach Anaheim. Später erzählten sie mir begeistert von der »Main Street«, dem »Adventureland«, dem »New Orleans Square« und vom »Frontierland«. Ihr ganzer Tag war ausgefüllt mit allen möglichen Überraschungen in weiteren Eventstationen wie dem »Fantasyland«, »Mickeys Toontown« und »Tomorrowland«. Die Hälfte der Überraschungen bestand aus Schlangestehen.
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