An diesem Abend gingen wir in ein mexikanisches Schnellrestaurant, unweit der Polk Street, wo wir sehr preiswert und total lecker essen konnten. Lutz war erstaunt über die Buntheit des Nachtlebens, über den ruhigen Verkehr, die großen Verkehrsschilder, über die allgegenwärtige Neon-Reklame.
Zu Hause legte er sich im Wohnzimmer auf die Gästematratze und schlief sofort ein. Ich ging an meinen Schreibtisch und las in Doros Protokollen weiter. Ich hatte ihr ja versprochen, spätestens bis zum Jahresende meine Kommentare dazu abzugeben.
(Aus Doros »Zusammengefasstem Interview mit Ninas Mutter, Verkäuferin«)
„Nina und ich hatten in sehr bescheidenen, engen Verhältnissen und in schlechter Umgebung gewohnt. In Kreuzberg gab es viele Trebekinder, also Straßenkinder, und entsprechende Treffs und Lokalitäten, auch vom Bezirksamt und der Kirche, aber mir gefielen die vielen wohnungslosen Kids und Hausbesetzer nicht, die da herumschwirrten und für Nina ein schlechtes Vorbild abgaben. Da wollte ich raus, wollte eine hübsche Wohnung haben, in der wir zwei uns wohlfühlen. Dafür habe ich geschuftet, das wollte ich erreichen. Natürlich wollte ich Nina auch mal etwas Besonderes erfüllen, einen Extra-Wunsch. Alles, was ich bis dahin nicht leisten konnte. Jetzt aber hatte ich einen recht guten Verdienst, auch wegen der vielen Überstunden.
Ich verwirklichte diesen Traum, Nina kriegte eine rosa Tapete ins Zimmer mit einem Einhorn-Motiv, hübsche Mädchenmöbel, die sie sich selber aussuchen konnte. Ich war so froh, etwas für meine Kleine tun zu können. Wenn ich am frühen Abend vom Job nach Hause kam, brachte ich ihr zumeist eine kleine Überraschung mit. Bei Karstadt oder Wertheim oder in Kaiser‘s Kaffeegeschäft kaufte ich dann schnell noch eine besondere Leckerei oder ein kleines Modeschmuckstück, eine lustige Schulmappe oder ähnliches, halt eine Überraschung. Wenn Nina mir dann einen dankbaren Kuss gab, war es für mich die Bestätigung, dass alles in Ordnung mit uns war.
Mir ist heute klar, dass ich mich von meinem schlechten Gewissen hatte freikaufen wollen. Mich drückte der Schuh wegen der wenigen Zeit, die ich für Nina übrig gehabt hatte. Andere Mütter konnten bei den Hausaufgaben oder bei der Vorbereitung auf Klassenarbeiten behilflich sein. Und meine Kleine musste alles alleine bewerkstelligen – oder aber sie machte es nicht, was ich nicht wissen konnte, weil ich noch nicht einmal Zeit und Kraft hatte, dies zu überprüfen. Aber immerhin waren ihre Noten durchschnittlich. Ich hätte mich um Nina kümmern müssen, statt arbeiten zu gehen, aber dann hätten wir uns nichts leisten können, weil das der Sozialhilfesatz nicht hergibt.
Trotz dieser Zwickmühle mache ich mir heute den Vorwurf, die Arbeit überbewertet zu haben. Aber von der Wohlfahrt zu leben, war nicht mein Ding; das hatte mir mein Elternhaus mit auf den Weg gegeben: dass man nicht unnötig der Gemeinschaft zur Last fallen darf. Jedenfalls habe ich vor lauter Schufterei völlig aus den Augen verloren, worauf es eigentlich ankommt. Egal wie ich es drehe und wende: Ich komme immer wieder an denselben Punkt, dass ich meine sensible Kleine zu häufig sich selbst überlassen habe. Sie hätte sicher mehr Halt und Führung gebraucht.
Ich habe in dieser Zeit nicht im Entferntesten daran gedacht, dass Nina abgleiten und auf eine schiefe Bahn gelangen könne. Für mich war äußerlich die Familienwelt in Ordnung. Zugleich sah ich sehr wohl, was so in Kreuzberg abging, die Schlägereien, die Brüllereien aus den Fenstern der Familienwohnungen und der maßlose Alkoholkonsum an jeder Ecke. In den Hauseingängen lagen die Betrunkenen. Ich hielt die Selbsttäuschung hoch, dass meine Kleine sich an mir ein Vorbild nehmen würde, wenn ich nur nicht rumschlampen, sondern ordentlich unseren Haushalt führen würde; wenn ich nicht von Stütze lebte, sondern arbeiten ginge, wenn ich nicht mit Verboten und Brüllereien erzog, sondern mit Argumenten und Liebe.
Nach meiner Überzeugung ging es aufwärts. Am Vormittag war Nina in der Schule gut aufgehoben, als Schlüsselkind kam sie mittags nach Hause und machte sich ihr Essen, das ich oft vorbereitet hatte, selber. Es gab so viele Schlüsselkinder, deshalb machte ich mir hierzu auch keine großen Gedanken. Nachmittags ging sie zu einem Tierheim, um sich dort ein wenig die Zeit zu vertreiben, Hunde zu füttern oder mal Gassi zu führen. Ob sie das auch wirklich tat, konnte ich nicht überprüfen.
Alles ging so weit gut, bis auf kleine Eifersüchteleien zwischen Nina und meinem Freund Karl, der inzwischen bei uns wohnte. Nun hatte ich meine Arbeit, den Haushalt, Nina und hatte auch ihn, für den ich da sein wollte, denn er war für mich der einzige Erwachsene, mit dem ich mich gleichwertig und in liebevoller Weise zurückziehen konnte. Aber gerade auch dann hatte ich ein schlechtes Gewissen gegenüber Nina, wenn ich ihr sagen musste, dass ich mal meine Zweisamkeit mit Karl brauchte. Ich glaube heute, dass sie sich in diesen Momenten zurückgestoßen fühlte.
Zu dieser Zeit muss sie an die falschen Freunde geraten sein. Doch ich hatte dafür keinen Blick. Ihre beste Freundin war immer Chrissi gewesen. Ein vernünftiges Mädchen; sie wohnte in der Nachbarschaft, und ihre Mutter lud die beiden Freundinnen gelegentlich zum Essen oder zu einem gemeinsamen Zoobesuch ein. Chrissi besuchte auch uns und konnte bei uns mitessen – es war eine gute Freundschaft, bis dies irgendwann kippte. Aber selbst das bemerkte ich viel zu spät.
Damals waren die beiden vierzehn Jahre alt, also in einem Alter, wo man viel erkunden möchte und mit oder ohne Jungs einiges ausprobieren will. Ich fand es deshalb ganz normal, dass sie in den Jugendtreff des Bezirks gingen und war mir sicher, dass sie dort gut aufgehoben waren – es war ja eine offizielle städtische Einrichtung. Dass dort schon Marihuana geraucht und harte Getränke konsumiert wurden, hätte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen können. Denn da gab es doch Sozialarbeiter und andere Aufsichtspersonen, oder?
Ich war eigentlich eher beruhigt und zuversichtlich, weil sich Nina, wie ich es wahrnahm, zu einer fröhlichen Teenagerin entwickelte, wieder unbeschwert lachen konnte und dem verloren gegangenen Vater nicht mehr nachtrauerte.“
Ich schlug die Mappe mit Doros Protokollen zu und ging ins Bett. Im Wohnzimmer schnarchte halblaut mein junger Besuch.
*
„Was machen wir heute?“ Schlaftrunken, wackelte Lutz in die Küche.
Es war die erste Frage am ersten Morgen des ersten Tages, als Lutz in der Washington Street zum breakfast erschien. Es sollte die Dauerfrage der nächsten sechs Wochen werden.
Ich hatte noch nichts zum Frühstück eingekauft. Das wollte ich mit Lutz gemeinsam machen. Ich ging mit ihm zur Natural Bakery, um frische Bagels zu kaufen, zeigte ihm die Shops und den Grocery Store, bei denen ich vorzugsweise unsere Lebensmittel und Dinge des Hausbedarfs besorgte.
Wir frühstückten zu Hause, danach spazierten wir bei gemäßigtem Vormittagsnebel durch Chinatown, fuhren Cable Car, gingen zur Bay und besuchten Fisherman’s Wharf. Ich stellte ihn meinen Nachbarn vor und besuchte mit ihm das »Art Institute«, wo Sam, Vicky und Mary studierten.
Ich sparte nichts auf am ersten Tag, weil ich die Hoffnung hatte, Lutz würde sich die kommenden Tage dann selbständig auf die Pirsch durch das abenteuerliche Frisco machen. Aber ich sollte mich gründlich täuschen. Er war irgendwie doch noch der „kleine Lutz“ und benötigte die führende Hand des „Ersatzvaters“. Ich gab mir Mühe, nahm ihn mit zu meinen Pflichtbesuchen an den Unis und zu den Behörden. Wenn er nicht mit in die Gebäude kommen durfte und draußen im Station Wagon warten musste, war ihm schnell langweilig. Kaum saß ich am Lenker, fragte er mich: „Und was machen wir jetzt?“
Dann brachte ich die Rede auf seine Zukunft. Ob er es ernst mit der Seefahrt meine, ob er wisse, wie hart und rau das Leben auf hoher See sei, ob er wisse, welches Naturell die Seeleute hätten, ob er glaube, dass er den Anforderungen harter körperlicher Arbeit gewachsen sei, ob er bereit sei, unentwegt das Deck zu schrubben und die Klos der Mannschaft sauber zu halten.
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