Ich erinnere mich noch sehr genau daran, dass ich einmal zu meiner Mutter, einer herzensguten Frau, die jedoch zu Hause nichts zu melden hatte, sagte, dass ich einen Jungen aus meiner Parallelklasse sehr nett fand und dass er mir auf dem Nachhauseweg eine Blume von einem Park-Beet gepflückt hatte. Mein Vater hatte das wohl im Flur gehört, kam um die Ecke geschossen und haute mir derart eine runter, dass mein Ohr noch einen Tag danach dick geschwollen war und mein Lehrer mich fragte, ob ich Ohrenschmerzen habe. Da war ich schon sechzehn.
Später, mit achtzehn, lernte ich einen Bauarbeiter kennen, Hermann. Er wollte für mich ein Haus bauen, falls wir einmal eine Familie werden würden. Das fand ich goldig. Seine Eltern hatten einen Handwerksbetrieb, eine Schlosserei, aber da wollte er nicht rein. Mein Vater hatte etwas gegen einen Bauarbeiter, der könne mich nicht versorgen, das sei kein anständiger Beruf und so weiter. Je mehr mein Vater gegen Hermann polterte, desto trotziger wurde ich und steigerte mich in eine Liebessehnsucht mit vielen Kindern hinein. Als es zu Handgreiflichkeiten zwischen meinem Vater und Hermann kam, war das Fass zum Überlaufen voll. Ich sah nur einen einzigen Ausweg, nämlich baldmöglichst schwanger zu werden. Und so legte ich es darauf an.
Das war natürlich dumm, weil wir noch zu jung waren. Hermann, der nur ein Jahr älter war als ich, fühlte sich hintergangen, als ich ihm sagte, ich sei in der sechsten Woche. Er heiratete mich trotzdem. Ich fühlte mich glücklich, aber nicht geborgen, denn mein Mann flog aus einer Baustelle nach der anderen raus. Später erfuhr ich, dass er getrunken hatte. Auch zu Hause wurde er immer ungehaltener und unberechenbarer.
Aus dem Haus, das Hermann für unsere zukünftige Kleinfamilie bauen wollte, wurde natürlich nichts. Wir hatten ja gerade mal das Nötigste zum Leben. Mein Vater hatte mir jegliche Unterstützung entzogen, weil er mit meiner Ehe nicht einverstanden war. Meine Mutter weinte immer hilflos vor sich hin, wenn ich sie heimlich besuchen kam, und steckte mir gelegentlich einen Zehner zu, was aber nicht rauskommen durfte, weil mein Vater sonst durchgedreht wäre.
Ich bewarb mich noch in der Schwangerschaft als Verkäuferin in einem Supermarkt. Ich hatte Glück, weil der Marktleiter mich mochte. Nun verdiente ich mein eigenes Geld. Mein Mann trug zwar auch etwas zum Lebensunterhalt bei, aber schon damals vertrank er eine Menge. Als Nina auf die Welt kam, musste ich pausieren und ging zum Sozialamt, wo man mir nur widerwillig Beratung und Unterstützung angedeihen ließ. Ich solle mich von meinem Mann trennen, wenn er ein Säufer sei, vorher könne man mich nicht unterstützen. So musste ich tricksen und sagen, er sei ausgezogen, und musste ein ganzes Lügensystem konstruieren, weil ich natürlich die Hoffnung hatte, dass Hermann sich berappeln würde. Nina würde ja einen Vater brauchen – und ich einen Mann, der mir beim Erziehen half.
Als Nina ein Jahr alt war, kam Hermann eines Abends nicht mehr nach Hause. Stattdessen rief er an und sagte, er sei zu einer anderen Frau gezogen, er halte den Stress bei mir nicht mehr aus. Es machte mir gar nicht viel aus, denn er war sowieso keine Hilfe, eher zusätzliche Belastung zum Kleinkind gewesen. Sein Saufen hatte zugenommen und er war auch öfter ungemütlich geworden. Seitdem war ich alleinerziehend und erhielt Stütze.
Das alles, was ich durchgemacht hatte, wollte ich Nina ersparen. Ich suchte nach einem Halbtagsjob, egal welche Arbeit es gewesen wäre. Aber es gab keine Halbtagsjobs für eine Mutter mit einem Kleinkind, denn bekanntlich machen Kleinkinder alle möglichen Kinderkrankheiten durch. In dieser Zeit schwor ich mir, dass meine Kleine so aufwachsen sollte, dass sie gar nicht erst in solche Verhältnisse reinschlittern konnte, wie ich sie durchgemacht hatte.
Zufällig erhielt ich vier Jahre später einen soliden Job als Verkäuferin in einem Baumarkt mit 1.100 Mark netto und lernte dort meinen zukünftigen Lebensgefährten Karl kennen. Er hatte Nina akzeptiert und war auch gut zu ihr. Manchmal aber trauerte Nina noch ihrem Vater nach, obwohl sie ihn eigentlich ja gar nicht richtig gekannt hatte.
Nina sollte frei aufwachsen, ohne den autoritären Druck, dem ich ausgesetzt gewesen war. Ich wollte eine moderne Erziehung, wie ich es in den Zeitungen gelesen hatte: frei von Unterdrückung, frei von Entmündigung, frei von tausenderlei widersinnigen Verboten und frei von Schlägen. Wahrscheinlich habe ich ihr zu viel Freiheiten gelassen.“
An dieser Stelle unterbrach ich die Protokoll-„Nachlese“ und ging gedankenschwer ins Bett. Eine Frau aus einem einfachen sozialen – und nicht aus dem akademischen – Milieu, war also mit den Ideen freier antiautoritärer Erziehung geflutet worden. Mit richtigen Ideen der 68er-Bewegung. Ihr eigenes Leben bestätigte die These, dass es falsch war, in autoritärer und patriarchalisch-gewalttätiger Weise das Familienleben zu gestalten. Sie wollte endlich für sich und damit auch für die Zukunft ihres Kindes eine ihr vorschwebende Freiheit in Würde und ohne Zwang erlangen. Und doch hatte nun alles im Chaos geendet.
Mein letzter fragender Gedanke, bevor ich einschlief, war: Wo endet bei der Erziehung der Kinder die Freiheit, wann und in welcher Weise muss die erziehende Person eingreifen? Pit, mein bester Freund aus alten Frankfurter Schulzeiten, war Grundschullehrer geworden; am nächsten Tag würde ich ihm einen Luftpostbrief schreiben und um einen Erfahrungsbericht aus seinem Schulalltag bitten.
*
Pits Antwortbrief erreichte mich zwei Wochen später, zeitgleich an dem Tag, als ich »den kleinen Lutz« nachmittags auf Friscos Airport abholte. Die Briefpost kam regelmäßig am Vormittag gegen 10:30 a.m. Die Postzusteller kannten jeden Bewohner persönlich im Haus und ließen sich echt Zeit – entspannte Zustellung, dachte ich. Denn ich musste an die Schinderei und den unmenschlichen Zeitdruck denken, denen mein einstiger WG-Genosse Tommi bei der Zustellung im Westberliner Bezirk Spandau ausgesetzt gewesen war.
Neugierig und ungeduldig öffnete ich Pits Brief. Post aus der Heimat war immer ein Tageshighlight. Pit schrieb:
Hey, du Neu-Ami!
Tut mir leid, dass ich erst heute dazu komme, auf deinen lustigen und doch ernst gemeinten Luftpostbrief zu antworten. Aber ich war gerade mit dem gewissenhaften Zerreißen eines unpädagogischen Plakates an der Wand meiner neuen Schulklasse beschäftigt. Wie das kam, erzähle ich dir gleich. Erstmal Jaaa, ich bin glücklich, ich habe eine neue Liebe gefunden, Gudrun, sie ist Fotografin und wir passen super gut zusammen. Mit meiner Trennungsgeschichte will ich dich nicht größer aufhalten – du weißt selbst genau, dass es nicht immer so passt, wie man es erträumt. Aber dann muss man ja nicht die Träume, sondern sein Leben wechseln. Oft hilft dabei der glückliche Zufall. So jedenfalls war es bei mir.
Zuvor hatte ich Enttäuschungen und Hängepartien am laufenden Band, nicht liebestechnisch, sondern berufsmäßig. Nach Wochen ohne jegliche Informationen bekam ich vom Schulamt endlich die Zusage einer Anstellung als Grundschullehrer in Babenhausen. Glück gehabt, von vierzehn Referendaren am Studienseminar war ich einer der Glücklichen. Die anderen Mitbewerber arbeiten inzwischen als Taxifahrer, Postzusteller oder in diversen Buchhandlungen und Büchereien. Ein bisschen Muffe hatte ich schon vor dem ersten Schultag, aber mit meinen „fortschrittlichen Vorstellungen“ sollte es schon klappen, oder?
Kaum im Klassenraum fiel mir nach dem üblichen „Ich bin euer neuer Lehrer“ ein Plakat auf, das die bisherige schrullige Klassenlehrerin an die Wand gepinnt hatte. Da standen unter zwei Rubriken, nämlich unterteilt in Plus oder Minus, zwei Namen drauf: Bodo und Susanne. Bodo hatte schon sieben Minus-Striche, während Susanne vier Plus-Striche hatte. Wahrscheinlich sollte die Liste fortgesetzt werden, damit jeder in der Klasse wusste, was Sache war. Ein Denunziations- und Mobbing-Anreiz par excellence, dient ganz klar der Einschüchterung. Hier waren alle Schüler offensichtlich nach lieb oder weniger lieb gelistet.
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