Erste Amtshandlung: Abhängen und Zerreißen des Plakates. Der Schüler Bodo hat sich schon in den nächsten Tagen gut entwickelt und war überhaupt kein Sorgenkind mehr, wie es die alte Schrulle behauptet hatte. Letztlich hat er sogar ein Fest mit den Eltern der Klasse fast im Alleingang gestaltet. Das ist überhaupt ein wesentlicher Punkt in meiner pädagogischen Arbeit: Ich nutze den Unterricht als Übungsfeld für Kompetenzen, die die Schüler im Rahmen eines Festes den Eltern vorstellen: Gedichte vortragen, Sportübungen zeigen, Theaterspiele, Zaubertricks vorführen usw.
»Lernen in der eigenen Geschwindigkeit« ist für uns junge Lehrer eine zentrale pädagogische Leitlinie, entsprechend habe ich viele Lernspiele selbst gebastelt, und die Einrichtung von Lern- und Spielecken im Raum war eine Selbstverständlichkeit.
Bei vielen Kolleginnen ist es noch üblich, Vorlesestunden abzuhalten – tierisch langweilig für die guten Leser, eine Qual für die langsamen. Das lässt sich in der Ecke natürlich viel individueller und entspannter gestalten. Außerdem hole ich mir interessierte Mütter oder Väter in die Klasse – Sänger, Förster oder einfach nur Vorleser oder Lesehelfer. Natürlich gibt es erstmal Widerstand aus dem Kreis der Eltern (meist selbst Lehrer), aber da EMU (Elternmitarbeit im Unterricht) durch entsprechende Gesetze erlaubt ist, wurde das im Rahmen eines Elternabends geklärt, und ich konnte mein Konzept beibehalten.
Überhaupt bestehen Kollegien in der Grundschule oft zu 100% aus Lehrerinnen; meine Schule ist da schon fortschrittlicher, auf 15 Frauen kommen immerhin drei Männer. Aber was heißt fortschrittlicher? Schließlich gibt es leider viel weniger männliche Grundschullehrer als weibliche. Doch ebenso wenig wie es eine Qualitätsgarantie ist, eine Frau zu sein, so ist es keine, wenn man ein Mann ist. Dazu ein aktuelles Beispiel, weil mich ein Kollege tierisch nervt: Einer von uns drei Jungs ist ein echter Frankfurter Chauvi. Und für ihn sind die Kolleginnen und Mütter nur »Schneckscher« oder »blöde Weiber«. Puuuh.
Sei froh, dass du kein Lehrer geworden bist – du müsstest nach allen Seiten kämpfen. So kannst du in Ruhe den Golden State genießen.
In diesem Sinne
Venceremos!
Dein Pit
Um 2 p.m. fuhr ich mit meinem Ford Station Wagon los. In dreißig Minuten würde Lutz auf dem »International Airport« von Frisco landen. Ich brauchte für die zwölf Meilen nur vierzehn Minuten, wie meine Superneuheit auf dem Armaturenbrett zeigte – ein Display mit Kartenmaterial und ungefährer Zeitabschätzung, so etwas Geiles hatte ich noch nie gesehen, fast war ich echt stolz auf diese Ami-Karre. Zwar musste ich die Karte auf dem Display mit der Hand „umblättern“, aber immerhin. Man brauchte sich mit keiner Faltkarte rumschlagen.
Auf dem Weg zum Airport war an der Abfahrt zu Brisbane im Bezirk South San Francisco eine Kontrollstelle eingerichtet. Damit hatte ich nicht gerechnet, weil ich so etwas in den vergangenen zwei Monaten noch nicht erlebt hatte. Ich bekam einen gehörigen Schreck, als ich sah, wie der Driver des Wagens vor mir aussteigen und sich mit weit gespreizten Beinen nach vorne beugen musste, um sich an seinem Wagendach abzustützen. Derweil tastete ihn ein Cop der Highway-Patrol ab, während sein Kollege mit vorgehaltener Pistole daneben stand.
Nach langwieriger Inspektion seiner Wagenpapiere, durfte er nach zehn Minuten endlich weiterfahren. Jetzt war ich dran. Ich stieg sogleich aus und war gerade dabei mich mit gespreizten Beinen aufzustellen, als der Cop lachte und sagte: „It’s not necessary. Just if you make a joke about a weapon. That’s not funny.”
Ich kam zwanzig Minuten zu spät, und am Ausgang des Arrival-Gates erkannte ich schon von weitem den schlank-schlaksigen Lutz in engen beigen Jeans, einem karierten Hemd und mit einem großen Seesack. Neben ihm stand eine blonde langhaarig-gelockte Frau, die etwas älter als er erschien und sich angeregt mit ihm unterhielt. Ich winkte in Richtung der beiden. Als Lutz mich endlich sah, stürmte er auf mich zu, umarmte mich und sagte: „Ich freue mich wahnsinnig. Aber Moment bitte, ich muss mich noch von Emma verabschieden.“ Er deutete zu der jungen Frau, die uns entgegenkam.
„Ach schön, dass das geklappt hat. Lutz zweifelte schon, ob er abgeholt würde.“ Sie gab mir die Hand. „Ich habe Ihrem Bekannten die Flugangst etwas nehmen können, indem wir uns angenehm unterhielten und durch unsere ablenkenden Erzählungen verging die Zeit viel schneller.“
„Danke, dass du dich so bemüht hast. Darf ich Du sagen?“ Sie nickte und sagte: „Ich heiße Emma, ein guter altdeutscher Name, der …“
„… der vielleicht bald schon wieder in Mode kommt“, ergänzte ich. „Ich bin Stefan.“
„Ich weiß“, antwortete sie ohne meine weiteren Erklärungen abzuwarten. „Lutz hat mir alles erzählt.“
„Danke für die Flugangstbetreuung“, sagte ich lachend zu Emma, und zu Lutz: „Wusste gar nicht, dass du darunter leidest, du Flugangsthase.“
Lutz und Emma drückten sich zum Abschied und sie gab mir die Hand.
Auf der Rückfahrt erzählte mir Lutz, wie er sie kennen gelernt hatte. „Ich bin doch das erste Mal in meinem Leben geflogen, weißt du. Da war’s mir ganz recht, dass ich mich mit jemandem unterhalten konnte. Auf dem Umsteigestopp in London-Heathrow sah ich sie in einer der Sitzreihen des Gates sitzen und setzte mich einfach neben sie und sagte »Hallo, ich bin der Lutz, fliegen Sie auch nach San Francisco?« Da hat sie mich mit ihren großen Augen angeschaut und geantwortet: »Ja, wie alle, die hier sitzen. Hier geht’s ja nur nach Frisco, nirgendwo anders hin.« Naja, so kamen wir ins Gespräch und duzten uns. Sie gab mir einen Kaffee aus, und da wir bereits beim Einchecken unsere Sitzplätze erhalten hatten, baten wir im Flieger die Stewardess, ob wir nebeneinandersitzen könnten wegen meiner Flugangst. Der betroffene Passagier war einverstanden und so saßen wir acht Stunden nebeneinander und erzählten uns unsere Geschichten.“
„War denn der Flug so schlimm?“
„Der Start, das mit dem Rollfeld, und als es dann hochging, das war schon ganz schön aufregend. Und dann die Landung, das Ruckeln und Bremsen, ich dachte, jetzt überschlägt sich der Flieger. Meine Hände kamen ins Schwitzen.“
„Was hat Emma von sich erzählt?“
Emma war fünfundzwanzig Jahre alt, kam aus Berlin und hatte sich gerade von ihrem Freund getrennt. Was sie in den USA machen wolle, hatte Lutz sie gefragt. Sie habe nichts Besonderes vor, wolle nur ein Jahr überbrücken, bis sie am Berlin-Kolleg aufgenommen würde, um auf dem zweiten Bildungsweg ihr Abi zu machen. Doch das alles stehe im Moment noch in den Sternen, sie wolle sich ganz auf die Staaten einlassen und müsse erst mal sehen, wie sie ihren Lebensunterhalt bestreiten könne. Sie habe von einer Freundin eine Kontaktadresse erhalten, wo sie für die ersten Wochen unterkommen könne. Vielleicht würde sie darüber Arbeit und ein Zimmer finden.
„Hat sie dir ihre Adresse gegeben?“
„Nein, wozu auch? Ich glaube, Du und ich, wir beide, haben genug in Kalifornien zu sehen und zu besuchen. Es war zwar wirklich lieb von Emma, mir den Flug irgendwie zu erleichtern und mit mir am Arrival-Point auf dich zu warten, denn ich hatte schon die Krise, dass ich alleine dastehen würde. Aber jetzt geht man halt getrennte Wege. War ja nur eine daherfliegende Bekanntschaft.“ Er lachte über seinen Wortwitz.
„Glaubst du, ich hätte dich am Arrival-Point vergessen?“
„Nicht wirklich.“
„Und wie stellst du dir deinen Aufenthalt hier vor?“
„Ich dachte, du hast ein Programm ausgearbeitet.“
„Gewöhne dich erst mal bei mir ein und vergiss bitte nicht: Ich bin hier, um zu arbeiten – auch wenn wir zwischendurch Zeit haben werden, um California zu erkunden. Du musst schon ein bissi selbst aktiv werden.“
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