Mit zielgerichteten Schritten ging die Frau zu ihrem Schreibtisch, setzte sich auf den Bürostuhl, dann beugte sie sich zu Boden und hob ein silbernes Schild auf, das sie vor sich hinstellte. »Anita Gmündner – Chefsekretärin« war darauf eingraviert.
»Sie wünschen?«
Michael Glaser hatte recht gehabt. Anita Gmündner war entschieden nicht der Typ einer Geliebten (außer Vogel hatte einen Bemutterungs-Fetisch gehabt – man sollte ja nichts ausschließen).
Katharina trat vor den Schreibtisch: »Katharina Klein und Andreas Amendt. Innenminister de la Buquet wollte unser Kommen ankündigen.«
Anita Gmündner deutete auf das traurig aus ihrer Schreibtischplatte ragende Kabelbündel. »Sie haben alles mitgenommen. Die Telefone. Computer. Akten. Mein Diensthandy. Sogar die Blumenvasen. Alles.«
»Wer?«, fragte Katharina.
»Die Männer vom Archiv. Sonst brauchen die immer Wochen, um auch nur eine Akte aufzugabeln.« Ohne Vorankündigung brach Anita Gmündner in Tränen aus.
Weinende Zeugen! Katharina hatte noch nie mit ihnen umgehen können. Andreas Amendt hatte jedoch bereits ein Taschentuch aus seiner Jacke gezogen und es Anita Gmündner gereicht. Sie trocknete sich die Augen, doch es half nichts. Sie weinte weiter. Amendt ging neben ihrem Stuhl in die Hocke und nahm ihre Hand.
Katharina kam sich überflüssig vor. Und …
Rasch ging sie hinaus auf den Flur und zog ihr neues Handy aus der Handtasche. Sie hatte sich von ihrem ersten Gehalt als Kriminaldirektorin ein iPhone gegönnt. Dann durchsuchte sie ihre Taschen nach der Visitenkarte von Michael Glaser. Kurz bevor sie das Innenministerium verlassen hatten, war er noch einmal herangehuscht und hatte ihr die Karte in die Hand gedrückt. Auf die Rückseite hatte er seine Handynummer geschrieben, mit dem Hinweis, auf der könne sie ihn Tag und Nacht erreichen.
Glaser hob bereits nach dem ersten Klingeln ab: »Frau Klein, was kann ich für Sie tun?«
Ja, was? »Es sieht so aus, als ob alle Unterlagen aus Vogels Büro bereits ins Archiv gebracht worden sind. Können Sie uns da Zugang verschaffen?«
»Was denn? Jetzt schon? Das Staatsarchiv ist doch sonst so schläfrig. – Ich schaue, was ich tun kann. Melde mich später bei Ihnen.«
Er wollte wohl schon auflegen, als Katharina ihn stoppte: »Schon herausgefunden, wer der Journalist war?«
»Nein«, kam die knurrende Antwort. »War wohl nicht akkreditiert. Unser Pressemäuschen kannte ihn auch nicht. Den Pförtner, der den durchgelassen hat, schnappe ich mir.«
***
»Natürlich war Jan-Ole ein guter Chef. Ich meine, er hat mir die Stelle hier verschafft, als mich niemand anderes einstellen …« Anita Gmündner drohte, wieder in Tränen auszubrechen. Amendt, der inzwischen auf einem Stuhl neben ihr saß, drückte ihre Hand fester.
Katharina entdeckte eine umgefallene Trittleiter. Sie stellte sie vor den Schreibtisch und setzte sich auf die oberste Stufe.
»Jan-Ole? Sie waren per Du?«, fragte sie zaghaft.
»Ja. Er hat es mir angeboten. Seine … seine Büroperle hat er mich immer genannt.« Anita Gmündner schluchzte erneut.
Rasch fragte Katharina, um sie abzulenken: »Was war Ihre Aufgabe hier?«
Anita Gmündner sah sie verwundert an, dann sagte sie stolz: »Ich war seine Chefsekretärin. Ich habe alles für ihn gemacht. Schreibarbeiten. Seinen Kalender geführt. Telefonate für ihn vermittelt. Termine vereinbart.«
»Auch Arzttermine?«, fragte Andreas Amendt.
Anita Gmündner antwortete verständnislos: »Nein. Das … das muss er wohl selbst gemacht haben. Oder seine Frau. Die ist doch Ärztin.«
»Hatte Vogel –?«, begann Katharina.
»Doktor Vogel, bitte«, korrigierte Anita Gmündner sie streng.
»Hatte Doktor Vogel Feinde?«
Aus Anita Gmündners Kehle drang ein grunzender Laut zwischen Schluchzen und Auflachen. »Hunderte. Wir haben sogar Morddrohungen bekommen.«
»Haben Sie die aufgehoben?«
»Nein, die haben wir immer gleich an den Staatsschutz weitergeleitet. Das ist Vorschrift.« Na Klasse, der Staatsschutz war mindestens ebenso geheimniskrämerisch wie die Geheimdienste.
»Aber Jan-Ole hat die Drohungen nie ganz ernst genommen«, fuhr Anita Gmündner fort. »Hat immer gesagt, wenn dich jemand bedroht, machst du irgendetwas richtig.«
»Und wie sah es aus mit Widersachern in seiner Umgebung? Andere Politiker vielleicht?«
Anita Gmündner lächelte melancholisch: »Ja. Vor allem die aus seiner eigenen Partei.«
»Irgendjemand, der gegen ihn intrigiert hat?«
»Versucht haben es alle. Aber Jan-Ole … Am schlimmsten sind … waren Becker und de la Buquet.«
»Der Ministerpräsident und der Innenminister?«
»Genau. Ich meine, de la Buquet und Jan-Ole waren ja schon in der Öffentlichkeit über Kreuz. Aber die Briefe, die sie sich geschrieben haben? ›Jan-Ole‹, habe ich oft gesagt, wenn er mir wieder einen diktiert hat, ›das schreiben wir so nicht. Sonst muss ich dir den Mund mit Seife auswaschen‹.«
»Und worüber haben die beiden gestritten?«
»Ach, über alles. Drogenlegalisierung. Grundrechte. Polizeikompetenzen. Vor allem aber über das Frankfurter Bahnhofsviertel.«
Katharina erinnerte sich, dass de la Buquet im letzten Jahr vor der Presse verkündet hatte, er wolle am liebsten das gesamte Viertel durchkärchern und den ganzen Abschaum in die Gosse schwemmen lassen. Vogel hatte ihn daraufhin den »Henkersknecht der Banken und Immobilienspekulanten« genannt.
»Das hat Jan-Ole ganz besonders am Herzen gelegen«, redete Anita Gmündner weiter. »Die Armut. Die Obdachlosigkeit. Die wollte er bekämpfen. Den Menschen wieder Hoffnung geben. Das war seine Lebensmission.«
Das hatte auch in dem Nachruf gestanden. In jedem Fall würde Katharina noch einmal mit dem Innenminister sprechen müssen. Andererseits: Wenn er seine Finger im Spiel hatte, warum hatte er dann gerade sie mit dieser Ermittlung beauftragt? Ihr fiel eine Bemerkung von de la Buquet wieder ein.
»Und doch hat Vogel … Doktor Vogel mit Innenminister de la Buquet Schach gespielt. Noch am Samstag.«
»Ja, das machte Jan-Ole manchmal. Umarme deine Feinde, hat er immer gesagt. Nichts ärgert sie mehr.«
»Und der Ministerpräsident?«, fragte Andreas Amendt. Richtig. Anita Gmündner hatte ja noch einen weiteren Feind benannt.
»Der hat Jan-Ole gehasst. Es war ja kein Geheimnis, dass Jan-Ole beliebter war. Gehört ja auch nicht viel dazu. Am Freitag, da ist Becker einfach hier reingestürmt. Direkt durch in Jan-Oles Büro. Die beiden haben sich angeschrien.«
»Wissen Sie, weshalb?«
»Nein. Die Doppeltür war zu. Ich habe nur die Stimmen gehört. Und Jan-Ole musste danach sofort weg. Hat mir nicht mehr erzählt, um was es ging. – Aber Becker hat eine Vase nach ihm geschmissen und –«
In diesem Augenblick wurden sie von einem jungen Mann unterbrochen, der einen großen Pappkarton hereinschleppte und auf den Schreibtisch stellte. »Lieferung für Anita Gmündner«, sagte er gelangweilt und hielt sein Klemmbrett über den Schreibtisch. Geistesabwesend unterschrieb die Chefsekretärin. Der junge Mann schlurfte aus dem Raum.
Mechanisch öffnete Anita Gmündner den Karton. Er war mit farbigen DIN-A4-Umschlägen gefüllt. Rot, gelb, blau, grün. Obenauf lagen ein kleines Päckchen sowie ein weißer Briefumschlag, auf dem mit geschwungener Handschrift geschrieben stand: »Anita – persönlich«. Sie öffnete den Umschlag und zog einen Brief heraus.
Plötzlich ändert sich ihr Ton: »Ich glaube, Sie müssen jetzt gehen«, sagte sie streng. Dann ging sie zum Fenster, um den Brief zu lesen. Tränen liefen ihr über die Wangen.
Katharina wollte etwas sagen, doch Amendt legte ihr die Hand auf den Arm. Leise gingen sie nach draußen. Behutsam schloss Amendt die Tür.
***
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