Warum gibt es keine Sanktionen, wenn die Berufspolitiker ein verfassungswidriges Gesetz beschließen, das vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben wird? Warum ist es nicht strafbar, wenn die Berufspolitiker ihre eigenen Interessen entgegen dem Grundgesetz über das Wohl des deutschen Volkes stellen? Warum werden Wahllügen oder unverantwortliches Schuldenmachen nicht bestraft?
Es gibt viele Länder, in denen die Berufspolitiker im Fall von Amtsmissbrauch für die Auswirkungen ihres Handelns persönlich zur Verantwortung gezogen werden können. Nicht jedoch in Deutschland.
Hier macht sich ein Abgeordneter ausnahmsweise nur dann strafbar, wenn er sich für eine konkrete Abstimmung im Bundestag bezahlen lässt. Erlaubt ist es dagegen, einem Abgeordneten „einfach so“ Geld zu geben, quasi zur „Pflege der politischen Landschaft“. Erlaubt ist es auch, einen Abgeordneten dafür zu belohnen, dass er in seiner Fraktion für ein bestimmtes Gesetz wirbt oder in einem Bundestagsausschuss, in dem die eigentliche Gesetzesarbeit gemacht wird, dafür stimmt.
Diese Missstände sollten eigentlich durch die UN-Konvention gegen Korruption (UNCAC) behoben werden. Die deutschen Berufspolitiker haben die Konvention bereits im Jahr 2003 unterzeichnet. Geändert hat sich seither jedoch nichts. 2011 weigerten sich die Bundestagsabgeordneten, den Straftatbestand der Abgeordnetenbestechung so zu erweitern, dass er auch „das verwerfliche Beeinflussen eines Abgeordneten bei der sonstigen Wahrnehmung seines Mandats“ erfasst.
Berufspolitiker quer durch alle etablierten Parteien schrecken nicht einmal davor zurück, bewusst gegen Gesetze zu verstoßen, wenn das dem eigenen Vorteil und der (Wieder-)Wahl dient. Viele Skandale und Affären legen davon ein beredtes Zeugnis ab: Flick, Barschel, Leuna, die bayerischen Amigos, der CDU-Spendenskandal mit schwarzen Konten, angeblichen jüdischen Vermächtnissen und Helmut Kohls „Ehrenwort“, die Bonusmeilen-Affäre usw.
Dass insoweit aber kaum ein Berufspolitiker je ins Gefängnis muss, hängt mit einer Bestimmung im Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) zusammen. Nach § 146 GVG unterstehen die Staatsanwälte der Weisungsbefugnis des jeweiligen Landesjustizministers. Da dieser in der Praxis immer einer der etablierten Parteien angehört, können Ermittlungen gegen Kollegen leicht und leise verhindert werden. Die Staatsanwälte dürfen eine solche Weisung nämlich nicht öffentlich bekannt machen – andernfalls droht ihnen eine Bestrafung wegen Verrats von Dienstgeheimnissen.
Die Berufspolitiker beteuern zwar immer, diese Befugnis nicht zu nutzen – abschaffen wollen sie sie aber gleichwohl nicht. Die Berufspolitiker stellen sich dadurch außerhalb der für alle geltenden Gesetze.
All diese Missstände führen dazu, dass die Legitimationsvoraussetzungen der parlamentarischen Demokratie in Deutschland heute nicht mehr gegeben sind. Die Berufspolitiker richten weder ihr Verhalten freiwillig ausschließlich am Gemeinwohl aus, noch können sie durch die auf dem Papier existierenden Kontroll- und Sanktionsmechanismen effektiv dazu gezwungen werden.
Natürlich ließe sich das ändern. Das Wahlsystem könnte so reformiert werden, dass verstärkt charakterlich und fachlich kompetente Personen einen Anreiz hätten, sich für ein Bundestagsmandat zu bewerben. Dazu müsste man jedoch die Macht der etablierten Parteien hinsichtlich der Verteilung der Bundestagsmandate brechen. Eine Kandidatur müsste auch ohne die langjährige Ochsentour erfolgreich sein können.
So würde zum Beispiel durch die Abschaffung der Landeslisten den etablierten Parteien ein wichtiges Machtmittel genommen. Wenn jeder Kandidat dieselben Ressourcen für den Wahlkampf zur Verfügung hätte, wäre viel an Chancengerechtigkeit gewonnen. Das könnte man zum Beispiel dadurch erreichen, dass jeder Kandidat nur eine bestimmte Summe ausgeben darf.
Oder indem jeder Bewerber in einem Wahlkreis seine wichtigsten Positionen schriftlich auf fünf Seiten darlegen kann. Aus den Texten aller Bewerber in einem Wahlkreis könnte man eine Broschüre erstellen, die an jeden Wähler im Wahlkreis verteilt wird. Dann könnten sich die Wähler ein inhaltliches Bild von allen Kandidaten verschaffen. Im Gegenzug wären alle übrigen Wahlkampfveranstaltungen, Wahlplakate und Fernsehauftritte verboten. Einzig öffentliche Fragerunden, bei denen alle Bewerber eines Wahlkreises zugelassen sind, würden noch stattfinden.
Dann hätten auch solche Bewerber eine Chance, die sich nicht jahrelang dem Parteiapparat angedient haben oder die vielleicht in den Medien nicht ganz so gut rüberkommen, aber dafür eine gute inhaltliche Arbeit machen und das Wohl der 80 Millionen „einfachen“ Menschen berücksichtigen.
Die Diäten könnten auf das durchschnittliche Einkommen begrenzt werden, das ein Abgeordneter vor seiner Wahl erzielt hat (ggf. mit Mindest- und Höchstgrenzen). Wenn Abgeordnete keine bezahlten Nebentätigkeiten ausüben dürften oder alle weiteren Einnahmen auf die Diäten angerechnet würden, sänke der Anreiz, sich aus finanziellen Motiven in den Bundestag wählen zu lassen. Denselben Effekt hätte es, wenn kostenlose Leistungen von Lobbyisten an Berufspolitiker wie Urlaube, günstige Kredite usw. verboten und für beide Seiten strafbar wären.
Berufspolitiker, die vorsätzlich öffentlich lügen oder ihren Amtseid verletzen, könnten wegen Amtsmissbrauch strafrechtlich verurteilt werden. Zudem könnten sie für die Folgen ihrer Entscheidungen persönlich mit ihrem eigenen Vermögen haften.
Jede dieser Maßnahmen würde bewirken, dass es für unfähige Egoisten weniger attraktiv wäre, Berufspolitiker zu werden. Dann bestünde die Chance, dass Menschen in die Parlamente einziehen, denen es nicht vor allem um ihre persönlichen Interessen geht, sondern um das Wohl der Allgemeinheit. Und solche Menschen gibt es.
Derzeit engagieren sie sich jedoch entweder außerhalb der Politik oder sie resignieren und finden sich mit dem bestehenden Zustand ab. Doch das kann unter geänderten Rahmenbedingungen sehr schnell anders werden. Welches Potential insoweit vorhanden ist, zeigen zum Beispiel die Vorgänge um Stuttgart 21. Wenn die Menschen eine reale Chance sehen, werden sie aktiv.
Doch natürlich setzen die Berufspolitiker keine dieser Maßnahmen gesetzlich um. Denn dadurch würden sie ja ihre eigenen Chancen schmälern, (wieder-)gewählt zu werden. Zudem bestünde die Gefahr, dass die Berufspolitiker ihre finanziellen und sonstigen Privilegien verlieren.
Wahlen ändern daran nichts
Die bisherigen Erwägungen liefern eine ganze Reihe von Indizien dafür, dass Berufspolitiker überproportional egoistisch veranlagt sind und deshalb ihren eigenen Interessen im Konfliktfall den Vorrang gegenüber dem Allgemeinwohl geben. Deshalb treffen die Berufspolitiker regelmäßig Entscheidungen, die zwar ihren persönlichen Interessen nützen, nicht aber dem Wohl der großen Mehrheit der „einfachen“ Menschen.
Das betrifft gerade auch die existentiellen politischen Fragen wie zum Beispiel „Euro-Rettung“, Einwanderung, Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU und Kriegseinsätze der Bundeswehr. In diesen Bereichen beschließen die Berufspolitiker regelmäßig das Gegenteil von dem, was die große Mehrheit der Menschen in Deutschland für richtig hält und will.
Und daran ändern auch die alle vier Jahre stattfindenden Wahlen zum Bundestag nichts. Die bisherigen Regierungswechsel haben nie dazu geführt, dass die Berufspolitiker anschließend dem Wohl der 80 Millionen „einfachen“ Menschen Vorrang gegenüber ihren persönlichen Interessen eingeräumt haben. Und es ist kein Grund ersichtlich, warum das künftig anders sein sollte.
Im Laufe der vierjährigen Wahlperioden sind viele Menschen oft mit den Berufspolitikern unzufrieden. In privaten Gesprächen und öffentlichen Stellungnahmen, lassen sie ihrem Unmut mit den Entscheidungen der regierenden Berufspolitiker freien Lauf. Doch nach der Wahl sitzen dann zum größten Teil wieder genau dieselben Gestalten im Bundestag, die zuvor Gegenstand heftigster Kritik waren. Wie kann das sein? Sind die Menschen wirklich so vergesslich? Lassen sie sich durch plumpe Schmeicheleien und großzügige Versprechen im Wahlkampf so leicht beeinflussen? Oder überkommt die Wähler beim Gang an die Wahlurne gar die Angst vor der eigenen Courage?
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