Beat Ringger - Die Service-Public-Revolution

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Die Corona-Krise hat praktisch über Nacht alte Sicherheiten infrage gestellt. In ungeahnter Deutlichkeit ist offensichtlich geworden, wie krisenanfällig unser System ist und wie verletzlich nicht nur die «Schwachen», sondern auch die vermeintlich «Starken» sind.
Beat Ringger und Cédric Wermuth erheben leidenschaftlich die Stimme gegen eine Politik, die sich unfähig zeigt, den inzwischen mannigfachen Krisen unserer Zeit zu begegnen: Klima, Ungleichheit, Care. Sie stellen dem Nihilismus des Profits eine politische Ethik des guten Lebens für alle entgegen. Sie fragen, was das für die Zukunft unserer Gesellschaft nach Corona bedeutet. Dafür entwerfen Ringger und Wermuth einen realistischen und zugleich kühnen Plan: die Service-Public-Revolution. Denn die Covid-19-Pandemie deckt auf, wie brüchig Gesundheitsversorgung und Existenzsicherung in vielen Ländern sind. Nur wenn wir die Reichtümer dieser Welt drastisch rückverteilen und die zentralen Infrastrukturen unserer Gesellschaft der destruktiven Profitlogik entziehen, können wir dem permanenten Krisenmodus entkommen. Die notwendigen Schritte auf diesem Weg zeigt dieses Buch.

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Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kultur

mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

© 2020 Rotpunktverlag, Zürich

www.rotpunktverlag.ch

eISBN 978-3-85869-896-4

1. Auflage 2020

Vorwort So kann es nicht weitergehen

Teil I Fassungslosigkeit. Und Hoffnung

Umweltschock, Klimaschock: Katastrophen mit Ansage

Obszöne Ungleichheiten, wegretuschiert

Ist der Mensch ein egoistisches Monster?

Trumputinismus – die nationalistische Sackgasse

Perspektive Care-Gesellschaft

Teil II Kapitalismus und Care

Wie ungleich ist die Welt?

Zu reich für den Kapitalismus

Care-Ökonomie, Care-Paradigma

Messen, was wirklich zählt

Teil III Der Allgemeinheit dienen, nichts anderem: Die Service-public-Revolution

Tun, was den Menschen dient, unterlassen, was ihnen schadet

Die Staat-Markt-Karikatur

Vielfältig, nicht einfältig

Drei Täuschungen und Irrtümer

Rückverteilen, Rückverteilen, Rückverteilen

Die Service-public-Revolution

Ein globaler Service public

Schluss Die globale Care-Gesellschaft

Der Ausbruch der CoronaKrise ist ein Ereignis das uns nachhaltig in - фото 2

Der Ausbruch der Corona-Krise ist ein Ereignis, das uns nachhaltig in Erinnerung bleiben wird. In der Schweiz wird sich insbesondere das Wochenende vom Freitag, 13. März, bis Montag, 16. März 2020, ins Gedächtnis einprägen. Zu diesem Zeitpunkt ist das öffentliche Leben hier und da bereits eingeschränkt, erste Großveranstaltungen sind abgesagt; an diesem Wochenende jedoch verändert sich die Einschätzung der Lage praktisch im Stundentakt. Am Freitagnachmittag schließt die Regierung die Schulen, verbietet Veranstaltungen mit über 100 Personen, begrenzt die Anzahl Gäste in Restaurants und Bars auf 50 und beschränkt die Einreise aus Italien, wo Mitte März bereits sehr hohe Infektions- und Todeszahlen zu beklagen sind. Gleichzeitig stellt sie zehn Milliarden Franken für die wirtschaftliche Unterstützung bereit – ein Betrag, der sich binnen wenigen Tagen vervielfachen wird. Drei Tage später ruft der Bundesrat die »außerordentliche Lage« aus. Restaurants, Bars, Freizeitbetriebe werden sofort geschlossen, auch die Grenzen zu Deutschland, Frankreich und Österreich gehen zu. Vorsorglich bewilligt der Bundesrat ein Aufgebot von bis zu 8000 Soldat*innen zur Unterstützung der zivilen Bevölkerung – so viele wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Zum ersten Mal in der Geschichte bricht das Parlament eine laufende Session ab. Die Medienkonferenzen des Bundesrats werden allein auf YouTube am Freitag und Montag von rund 450’000 Menschen verfolgt. Fast 650’000 Leute sehen sie an den Fernsehgeräten zu Hause. Die SRF- Tagesschau vom Sonntagabend erreicht allein in der Deutschschweiz 1,5 Millionen Menschen oder sieben von zehn Fernsehzuschauer*innen. Zum Vergleich: Die erste Pressekonferenz des Bundesrats in Sachen Covid-19-Pandemie vom 26. Februar wurde im Netz gerade mal 40’000-mal angeklickt.

Schnell wirft die Krise ihr Licht auf die groteske Ungleichheit in der Welt. Länder mit schwachem Gesundheitssystem sehen sich gezwungen, drastische Maßnahmen zu ergreifen, etwa weitgehende Ausgehverbote. Ende März stehen beispielsweise in der Zentralafrikanischen Republik mit ihren gut fünf Millionen Einwohner*innen ganze drei (!) Beatmungsgeräte zur Verfügung. In vielen Ländern haben die Regierungsmaßnahmen zur Folge, dass Millionen Menschen unmittelbar in existenzielle Nöte geraten: indische Wanderarbeiter*innen genauso wie südafrikanische Hausangestellte oder amerikanische Arbeitslose ohne Krankenversicherung. Sie alle werden nicht mehr nur vom Virus bedroht, sondern ebenso vom Kollaps des wirtschaftlichen Lebens.

Im Süden Europas zeigen sich die Folgen der langjährigen Austeritätspolitik. Um die Finanzmärkte zu stützen und den Zusammenbruch weiterer Bereiche der Wirtschaft zu verhindern, verschuldeten sich die Staaten 2007/08 stark. Die anschließenden »Hilfspakete« der Europäischen Union und des Internationalen Währungsfonds zur Rettung der Banken waren an harte Kürzungsvorgaben gebunden. Allein Italien hat in den vergangenen zehn Jahren 37 Milliarden Euro im Gesundheitswesen eingespart, davon 25 Milliarden während der Laufzeit der IWF-Kredite. 359 Spitäler wurden landesweit geschlossen und 70’000 Betten abgebaut. 1Kaum besser erging es Spanien: Noch im Zeitraum vom 1. Januar bis zum 1. März 2020, also kurz vor Ausbruch der Corona-Pandemie, gingen im Gesundheitssektor 18’320 Arbeitsplätze verloren. 2

Doch allen Widrigkeiten zum Trotz blitzt in der Corona-Krise auch Hoffnung auf, entstehen Entschlossenheit und Handlungsbereitschaft. Weltweit bringen Regierungen in Rekordzeit die größten wirtschaftlichen Stützpakete der Geschichte auf die Beine. Die Menschen reagieren mit großer Hilfsbereitschaft. In den Nachbarschaften und Quartieren entstehen solidarische Netzwerke. Allein auf der Corona-Unterstützungsplattform hilf-jetzt.chhaben sich in den ersten Wochen der Pandemie über 100’000 Personen in etwas mehr als 1000 lokalen Gruppen organisiert. Die Krise straft alle Lügen, die kollektives Handeln, positive Opferbereitschaft, Empathie und Solidarität für längst tot erklärt haben. Gleichzeitig muss die konsternierte Weltöffentlichkeit die oft grotesken Pirouetten der vermeintlich starken Männer – von Trump bis Putin, von Johnson bis Bolsonaro – mit ansehen. Was diese nationalistischen Zampanos anzubieten haben, sind sozialdarwinistische Experimente, manipulierte Statistiken und die national-egoistische Sabotage der internationalen Bemühungen um Solidarität.

Der Nationalismus führt uns in die Sackgasse. Wir brauchen eine andere Weltpolitik. Die Kooperation der gesamten Menschheit ist ultimativ gefordert. Dabei müssen wir anerkennen, dass es eine Zukunft nur gibt, wenn sie das gute Leben für alle einschließt – weltweit.

Wir legen mit diesem Buch den Vorschlag für eine Politikwende vor, der zwar in der Schweiz ansetzt, aber über sie hinausweist und Spielräume für eine positive Rolle unseres Landes in der Welt öffnet. Ein Vorschlag, der sowohl revolutionär als auch pragmatisch ist. Die Service-public-Revolution knüpft an die starke Tradition und an eine lebendige Kultur der kommunalen Selbstverwaltung an. Ebenso schafft sie die Verbindung zu den neuen Bewegungen der Klimajugend und des Feminismus, zu zivilgesellschaftlichen Initiativen und zum Engagement von NGOs. Die Service-public-Revolution soll dabei konsequent internationalistisch sein. Das ist kein kleiner Anspruch, und das ist uns bewusst. Aber für Bescheidenheit bleibt uns keine Zeit mehr. Ob Klima, Corona oder die immensen sozialen Ungleichheiten: Der Zustand der Welt verlangt entschiedenes Anpacken und nicht Zaudern und Zögern.

Den Service public ins Zentrum zu stellen, bedeutet, den Bereich unserer Gesellschaft auszubauen, der nicht der Logik der Konkurrenz und der Gewinnorientierung unterworfen ist. Das bedingt zuerst eine Stärkung der bestehenden öffentlichen Dienste im Inland, von den Infrastrukturen bis hin zur Gesundheitsversorgung. Es bedeutet gleichzeitig, Verantwortung zu übernehmen für den Ausbau eines »Global Public Service«, eines GPS – jedoch nicht für Handy-Apps, sondern für eine globale Care-Gesellschaft. Statt der systematischen Demontage der UN-Institutionen der letzten Jahrzehnte fordern wir einen Ausbau und einen neuen Aufbruch. Angesichts der Corona-Krise stehen die Weltgesundheitspolitik und eine massive Stärkung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Brennpunkt. Dafür muss die Schweiz hier und heute einstehen, zum Beispiel, indem sie ihre Finanzbeiträge an die WHO massiv erhöht. Zum Beispiel, indem sie in weltweiter Kooperation mit allen interessierten Partner*innen eine globale »Pharma fürs Volk« aufbaut, einen öffentlichen Pharma-Cluster, der dringend benötigte, von den privaten Pharmakonzernen seit Jahren vernachlässigte Medikamente entwickelt, produziert und zum Selbstkostenpreis für die ganze Welt bereitstellt. Wir kommen in Teil IIIdieses Buchs darauf zurück.

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